Zum Anfang Kunst der Sechziger Jahre
Thomas Dreher
Von der Expansion der Künste zu ihrer Reflexion Unter dem Stichwort <Expansion der Kunst> wird eine Wende Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre diskutiert: Die Selbstbeschränkung des überwiegenden Teils der Nachkriegskunst auf die etablierten, zwei- und dreidimensionalen Kunstgattungen Malerei und Skulptur brechen Künstler um 1960 in Amerika und Europa auf. Aus zugleich zwei- und dreidimensionalen Zwischenformen wie der Collage und der Montage werden Assemblagen und Environments (Innenraum-Installationen), aus Aktionsmalerei wird Aktionskunst. Aktionskunst wird in Innenräumen, zum Beispiel in Environments, wie im Freien realisiert. Ob ein Konzept in Aktion überführt werden oder das Konzept als Konzept erhalten bleiben soll, problematisiert Konzeptuelle Kunst.
Allan Kaprow: Assemblage, Environments & Happenings. New York 1966, Cover.
Oben: Shimamoto, Shozo: Farbbeutel werfen, Aktionsmalerei, Der Umbruch Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre findet nicht nur in der Bildenden Kunst statt, sondern Grenzerweiterungen beziehungsweise Expansionen in der Musik, im Theater (inklusive Tanz), im Film und in der Bildenden Kunst ergänzen und durchdringen sich in verschiedenen Varianten der Multi- und Intermedia Art. In Multimedia Art werden verschiedene Künste simultan eingesetzt, während in Intermedia Art verschiedene Medien, sich wechselseitig ergänzend und durchdringend, kombiniert werden. Intermedia Art bleibt entweder experimentell oder es entstehen neue Gattungsformen mit eigenen Konventionen der Medienkombination. Die <Expansion der Künste> ("expanded arts"/erweiterte Kunstformen)1 läßt sich unter den Stichworten <Aktion> und <Konzept> diskutieren. Beide Stichworte markieren den Aufbruch vom geschlossenen Kunstwerk, das auf der einmaligen Ausführung beruht, zum Werk als Notation oder Konzept, deren/dessen Ausführung der Künstler anderen, nicht auf künstlerische Fertigkeiten spezialisierten Personen überlassen kann. Ausführungen können zum Beispiel bei George Brecht und Lawrence Weiner in Form von Aktionen, aber auch als Textpräsentationen auf Tafeln, Schildern und Wänden erfolgen.
George Brecht: Word Event: Exit, 1961. Oben: Event Card mit Notation. Mitte: Exit, ca. 1962-63. Ready-Made, auf Holz befestigt. Fluxus-Sammlung Gilbert und Lila Silverman, Museum of Modern Art, New York. Unten: Maciunas, George: Flag »Exit«, Prototoyp, o. J. (Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945: Aktionstheater und Intermedia. München 2001, S.126 mit Anm.235).
George Brecht: Word Event: Exit, 1961 mit Fluxversion. Detail of "Fluxfest Sale. Fluxus Information", 1966 (Hendricks, Jon: Fluxus Codex. The Gilbert and Lila Silverman Fluxus Collection, Detroit, Michigan. New York 1988, p.58).
Lawrence Weiner: A 36" x 36" removal
to the lathing or support wall of plaster or wallboard from a wall, 1968.
Kat.-Nr.021. Die Begriffe Aktion und Konzept markieren die Probleme einer Kunst, die sich von Gattungsnormen befreit, sich nicht allein an Ausstellungsmöglichkeiten im Kunstbetrieb (Museen, Galerien) bindet, sondern teilweise programmatisch kunstexterne Präsentationsmöglichkeiten und Handlungsfelder sucht, ohne dort den Status Kunst anzuzeigen (zum Beispiel mittels Verwendung von Charakteristika kunstspezifischer Gattungen). Diese multi- und intermedialen Präsentationen verweigern vorcodierte Antworten auf die Frage "Was ist Kunst?". In der zweiten Hälfte der sechziger und in den siebziger Jahren reagieren Konzeptuelle Künstler auf die Frage nach dem Status Kunst, wie sie die <als Kunst> nicht vorcodierten Präsentationsformen provozieren, indem sie neue Formen der Kunstreflexion in ihre Werke integrieren: Konzeptuelle Künstler thematisieren die Frage, wie über Kunst kommuniziert werden kann. Durch die Problematisierung der sozialen und ökonomischen Komponenten, die die institutionellen Rahmenbedingungen von Kunst konstituieren, und die Reflexion über deren Einfluß auf den Kunstdiskurs wird Konzeptuelle Kunst in den siebziger Jahren kontextkritisch. Der alle Lebens- und Kunstbereiche umfassende Diskursrahmen der Aktionskunst verengt sich mit Konzeptueller Kunst wieder auf Fragen des Kunstbetriebs. Kunstexterne Präsentationen dienen in Konzeptueller Kunst der Thematisierung ihrer Rückkoppelung an kunstinterne Diskurse: Es geht nicht um eine Überführung der Kunst in Lebensformen, sondern um die Auslotung von Möglichkeiten, den Diskurs über Kunst und kunstexterne Präsentationsformen aufeinander zu beziehen. Die theoretischen Konsequenzen aus intermediären Präsentationsformen und ihrer (Nicht-)Institutionalisierung loten Konzeptuelle Künstler bis zu einer theoretischen Differenzierung aus, die den zeitgenössischen Diskurs über Ready-Mades und Objektkunst und die Integration dieser Präsentationsformen in den Kunstbetrieb als ungenügend ausweist. Von der Aktionsmalerei zum Aktionstheater Das Ende einer Kunsttheorie, die sich an den klassischen Kunstgattungen, vor allem an Malerei, orientiert, läßt sich an den Gegensätzen der Pollock-Interpretation von Clement Greenberg und Allan Kaprow ablesen. Mit Kaprows Pollock-Interpretation beginnt die Phase der Erneuerung einer intermedial ausgerichteten "Kunstbeobachtung", die Anregungen von Futurismus, Dadaismus und Konstruktivismus aufgreift, nachdem Medienkombinationen von der abstrakten Malerei der Nachkriegszeit (abstrakter Expressionismus, Informel) marginalisiert worden waren. Bei Greenberg hat die bildende Kunst die Aufgabe, der Ausbildung einer Expertenkultur zu dienen, die sich der Erkenntnis eines zu sich selbst findenden Ästhetischen widmet. Im Visuellen gilt nach Greenberg die Reduktion von mitteilend-darstellenden Zeichenfunktionen als Voraussetzung, Fortschritte auf dem Weg zur Erkenntnis des Ästhetischen zu finden. Da das Ästhetische von Greenberg als nicht reflexiv-begrifflich, sondern als unmittelbar-sinnlich erfahrbar ausgewiesen wird, bedarf das ästhetische Urteil der Werkerfahrung. Diese Werkfunktion erfüllt nach Greenberg die Gattung Malerei, deren begrenzte Fläche er bereits Kunstcharakter zuspricht, bevor ein Künstler sie bearbeitet. Greenberg konstruiert den Kritiker als idealen Beobachter, der ein ästhetisches Werturteil nach Stilkriterien Heinrich Wölfflins ("malerisch" versus "linear", "plastisch") fällt und diesem Urteil normativen Charakter für Beobachter zuspricht, die keinen Expertenstatus beanspruchen können. Pollocks zwischen 1947 und 1950 entstandene abstrakte "all-over" "Drippings" weist der in den fünfziger Jahren im amerikanischen Kunstbetrieb tonangebende Kritiker aus als eine Reduktion auf die Flachheit des Gemäldes durch einen "malerischen" Stil der "polyphonischen" Dezentrierung. Die Reduktion auf nichtdarstellende Formen und der dezentrierende, die Flachheit des Trägers hervorhebende Farbauftrag führen nach Greenberg zu einer ungestörten Erfahrung des Ästhetischen im "reinen" Medium des Visuellen. Der Beobachter sieht sich mit einem abgeschlossenen Werk, der "malerischen" Akzentuierung einer begrenzten Fläche, konfrontiert: Umraum und Bildraum sind getrennt, das Verhältnis zwischen dem Beobachter im Umraum und dem Werk ist ein statisches.
Hans Namuth: Jackson Pollock malt 1950 "Autumn Rhythm (Number 30)", Atelier, The Springs, East Hampton, Long Island (an der Wand: "Number 32", 1950). Kaprow sieht dagegen in "The Legacy of Jackson Pollock" den "Zuschauer" ("spectator"/"observer") als sich bewegenden und in der Bewegung beobachtenden, als sich mental in Pollocks "all-over"-Bildraum ein- und wieder in seine (Koordinaten der) Selbstverortung im Realraum zurückblendenden "Teilnehmer" ("participant"):
So wird mit Kaprow der "Zuschauer" durch seine Selbstverortung in Übergängen beziehungsweise in mentalen Switchoperationen zwischen Bild- und Realraum zum "Teilnehmer". Dieser "Teilnehmer" kann auch erkennen, daß Phänomene der Alltagswelt, in der er sich als Akteur und Beobachter orientiert und bewegt, als Bestandteile einer "neuen konkreten Kunst" einsetzbar sind. Also muß Alltägliches nicht durch Grenzsetzungen zwischen Lebens- und Kunstwelt sowie zwischen Realraum und Werkraum ins Lebensferne und Außergewöhnliche transformiert werden, um in Kunst integriert werden zu können. Die "neue konkrete Kunst" blendet das Künstlerische - bei Pollock die häufig ungewöhnlichen Querformate und die rhythmische Flächengestaltung - nicht aus dem Alltag aus, sondern in die alltäglichen Weisen der "Weltbeobachtung" ein: Kunst wird beobachterzentriert. Die beobachterzentrierte Kunst ersetzt den statischen Beobachter vor dem Bild durch den sich im Realraum bewegenden und Blickbewegungen ausführenden Beobachter. Der Beobachtungsprozeß, zu dem Abfolgen aus physischen (Beobachter-) und mentalen (Beobachtungs-)Operationen gehören, löst das von Greenberg favorisierte unmittelbare Erkennen eines statischen Objektes als Gegenstand und letzten Maßstab der Kunstbeobachtung ab. Pollocks rhythmisch gegliederte Großformate beeinflußen nach Kaprow die Wahrnehmung des Realraums: Die Art, wie sich der Beobachter im Realraum bewegt, wird auch vom Bildraum beeinflußt. Kaprows Äußerungen in Texten und Interviews seit Ende der fünfziger Jahre enthalten sowohl eine individuelle, auf das eigene Oeuvre bezogene, wie auch eine ideale Ableitung des Happening. Er leitet das Happening aus Erweiterungen der etablierten Kunstmedien durch neue, nicht kanonisierte Formen ab, die zu Medienübergängen und neuen (Inter-)Medien führen: Kaprow beschreibt sowohl seinen individuellen als auch einen idealen Weg von der Malerei über die Collage zur Assemblage und zum Environment (1956-57), das zum Aktionsort für Happenings wird. Kaprow zeigt seinen Weg vom Environment zum Happening in Environments (1958-59) und im Außenraum (ab 1962) als konsequente Folge auf: Die eigene Entwicklung wird zum Beleg für das Modell einer Mediengeschichte.3
Allan Kaprow-Untitled Environment/Beauty Parlor, 1. Fassung, Environment, The Hansa Gallery, New York, Februar 1958 (Unten: Allan Kaprow vor Regal mit Tonbandgeräten). Kaprow begründet seinen Schritt zum Happening mit der Möglichkeit der Lenkung der Beobachteroperationen (Körperbewegungen) im Environment. Zugleich setzt dieser Schritt Aktionspotentiale frei, was schon im "Action Painting" angelegt war. Kaprow 1966:
In Kaprows "18 Happenings in 6 Parts" (1959) werden in Raumteilen, die durch drei Paravents aus Holzgerüsten mit halbdurchsichtigen Plastikfolien abgetrennt sind, Handlungen von Akteuren simultan präsentiert. Das Publikum erhält auf dem Programmzettel und auf "three cards" "instructions". Die "three cards" geben die Reihenfolge des Platzwechsels zwischen den drei abgetrennten Aktionsbereichen - einem "three ring circus" - an: "Everybody moved twice" (Kaprow, 9.10.1999). Die "instructions" auf dem Programm geben den Besuchern Auskunft über Anfang und Ende jedes "part", die Dauer der Pausen und den Platzwechsel. Diese "instructions" stehen rechts neben einer mit "Cast of Participants" überschriebenen Textspalte, in der die Akteure und ihre Aktionen aufgelistet sind. Kaprow führt auf dem Programmzettel nicht nur die "participants", sondern auch die "visitors" als Teilnehmer auf, die instruiert werden müssen.5 Allan Kaprow: 18 Happenings in Six Parts, Reuben Gallery, New York 1959. Zeitklammern Auf dem Weg zur Aktionskunst treffen sich zwei Entwicklungsstränge: einerseits der (bild-)künstlerische von der Aktionsmalerei zur Aktion (Jackson Pollock, Gutai) zur Aktion und andererseits der musikalische von spielbaren Noten zu Notationen mit graphischen und/oder verbalen Spielanweisungen. Zwei Expansionen der Künste - die Erweiterungen künstlerischer und musikalischer Strategien - wachsen zu experimentellen Aktionsformen zusammen, die etablierte Theaterformen - vor allem das Rollenspiel nach schriftlich fixierten Dialogen - in Frage stellen. Die neuen Formen der Spielanweisung halten sich nicht an Gattungsnormen, die im Musik- und Theaterbetrieb etabliert sind. John Cage: 45 min. concerted action, 1952. Bildquellen: Links: http://www.artperformance.org/article-20349225.html (23.5.2015 nicht gefunden). Rechts: Straebel, Volker: "...that the Europeans will become more American". Gegenseitige Einflüsse von Europa und Nordamerika in der Geschichte der Musikperformance. In: Dézsy, Thomas/Utz, Christian (Hg.): Musik. Labyrinth. Kontext. Kat. Ausst.. Offenes Kulturhaus des Landes Oberösterreich. Linz 1995, S.83. 1952 notierte der Komponist John Cage "Zeitklammern" für Aktionen von KünstlerInnen aus verschiedenen Tätigkeitsbereichen. Die KünstlerInnen realisierten das mit diesen "Zeitklammern" organisierte Multimedia-Happening "45 min. konzertierte Aktion"/"Theatre Piece No.1" im Sommer 1952 im Eßsaal des Black Mountain College in Asheville/North Carolina: Mary Caroline Richards (Dichterin), John Cage (Lesung), Merce Cunningham (Tänzer), Robert Rauschenberg (Maler), David Tudor (Musiker), Charles Olson (Dichter) und Jay Watt (Musiker) führten nacheinander und simultan miteinander innerhalb der für jede Aktrice/jeden Akteur vorgegebenen "Zeitklammern" Aktionen aus. Cage äußerte 1965 über die Aufführung:
Malerei als Bühnenelement, Bildprojektion, Tanz, Dichtung und Musik trafen in der "konzertierten Aktion" am Black Mountain College aufeinander. Bevor das "Action Painting" in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in Aktionstheater überführt wurde (Gutai, Georges Mathieu, Allan Kaprow, Markus Prachensky), gab es bereits das Multimedia-Happening.7 Events und "`idea´ Happenings" Künstler lernten von Komponisten wie John Cage Notationsformen für die Organisation von Aktionen in Zeitdimensionen. Die in Musik und Theater übliche Trennung zwischen Notation und Interpretation kehrte in Aktionskunst als Trennung zwischen Konzept und Aktion wieder. Studenten der Klasse von John Cage an der New School for Social Research, New York, zwischen 1956 und 1960: Al Hansen gibt George Brecht und Allan Kaprow Anweisungen zur Realisation einer Notation. Foto: Harvey Gross. Cages Kurse an der "New School of Social Research" (1956-1958, 1959-1960) besuchten die späteren Fluxus-Mitglieder George Brecht, Al Hansen, Dick Higgins (alle Künstler), Toshi Ichiyanagi (Musiker) und Jackson Mac Low (Dichter). Cage stellte dort zunächst seine neuesten Arbeiten vor: Vom Aufführenden ist bei der Übersetzung von Cages graphischen Notationen in Klangereignisse zum Beispiel die Art der Klangerzeugung und die Klangdauer frei zu entscheiden. Danach ging Cage auf die Arbeiten seiner Schüler - in der Mehrheit Nicht-Musiker - ein und half ihnen, die häufig noch verdeckten Ansätze zu einer eigenständigen Produktion zu erkennen. Die Schüler erhielten von Cage Anregungen, Notationsweisen für Aus- und Aufführungen zu entwickeln, die tradierte Gattungsgrenzen - der Kunst, der Musik, der Literatur und des Theaters - überschreiten. Al Hansen schrieb über Cages Unterricht und seine Schüler:
Cages Betonung der "Dauer" und seine Vorliebe für "komplexe Situationen" wird von einigen seiner Schüler durch die "short form" des "events" ersetzt - seit 1959 von Dick Higgins und George Brecht sowie seit 1960 von La Monte Young.9 Die "short form"-Notation besteht aus knappen Vermerken auf Kärtchen in Alltagssprache, die den Ausführenden große Freiheiten läßt. Weitere Fluxus-Künstler wie Eric Andersen, Giuseppe Chiari, Robert Filliou, Albert M. Fine, die japanische Künstlergruppe Hi Red Center, Geoffrey Hendricks, Takehisa Kosugi, George Maciunas, Yoko Ono, Chieko Shiomi und Robert Watts arbeiten ebenfalls mit "short form"-Notationen.
John Cage: Fontana Mix, 1958. Notation. Cage erreicht "indeterminacy" des Verhältnisses zwischen Komposition und Realisation10 durch graphische, bedeutungsoffene Notationssysteme, während George Brecht es durch kurze (elliptische) verbale Angaben dem Aufführenden überläßt, zu entscheiden, was zu tun ist: Auf seinen "event cards" sind Substantive, Prädikate und Präpositionen notiert, während Verben und sonstige Bezeichnungen für Handlungen fehlen. Wie die Interpreten von Werken Cages sich eine zweite Notation für die Aufführung erstellen müssen, die eine der Möglichkeiten der graphischen Notation in normaler Notenschrift konkretisiert, so müssen sich die Aufführenden von Brechts "event cards" ein Handlungskonzept einfallen lassen, in dem zum Beispiel ein Exemplar aus der Menge von Objekten, die in der Notation mit einem Sammelwort bezeichnet ist, vorkommen kann. Zwischen die Konzeption des Künstlers und die Realisation schiebt sich bei Cage und Brecht der Realisationsplan eines Aufführenden. In "Fluxversions" haben Brecht und andere Fluxus-Mitglieder Realisationspläne für eigene Notationen vorgestellt, die häufig Künstlerkollegen, teilweise aber auch die Autoren auf "Fluxfests" ausführten.
(Hendricks, Jon: Fluxus Codex. The Gilbert and Lila Silverman Fluxus Collection, Detroit, Michigan. New York 1988, p.58,194,257) Während die Notationsvorgaben für einen Realisationsplan bei Cage häufig noch Bezüge zur musikalischen Zeitorganisation für versierte Interpreten erkennen lassen, werden bei Fluxus-Künstlern ungewöhnliche Gebrauchsweisen des musikalischen Instrumentariums zu einem Aktionsbereich unter anderen (auch kunst- und musikexternen) Aktionsfeldern, die nicht spezialisierte Ausführende an beliebigen Orten ausführen können. Kaprow bezeichnete privat von Brecht verschickte "event cards" als "`idea´ Happenings":
Brecht provoziert durch kurze
Notationen Assoziationsfelder. In mentalen Realisationen der Wort-"arrangements"
auf "event cards" können Assoziationen entfaltet werden. Physische
Realisationen beziehungsweise Ausführungen in Form von Aktionen und Objekten
müssen keine Rückschlüsse auf das Notierte zulassen. Ausführungen
ermöglichen es Beobachtern, andere Assoziationsfelder aufzubauen, als die
Notation und der Notationsplan nahelegen. Einige "Event Cards",
so zum Beispiel "Beat Piece" von Yoko Ono (1963), legen dem Leser
die Entscheidung nahe, auf physische Realisationen zu verzichten und es bei
"Beobachtungsoperationen" zu belassen. Diese Beobachtungsoperationen
müssen sich nicht auf die Außenwelt richten, sie können sich
auch - wie Ono´s "Card Piece VI" - an die `Innenwelt´
wenden.11 Konzeptuelle Kunst Lawrence Weiner wurde durch frühe Gruppenausstellungen Konzeptueller Kunst, die der Galerist Seth Siegelaub zusammenstellte, bekannt. In einem Statement, das im Katalog zu Siegelaubs Ausstellung "January 5-31, 1969" zum ersten Mal publiziert wurde, systematisiert Weiner die in Robert Watts´ Definition des "Events" (1964) enthaltene Relationierung von Konzept und Realisation. Weiner erklärt in diesem Statement, das den Status seiner Textwerke festlegt und seither seine Präsentationen (von Ausführungen und/oder Notationen) begleitet:
Aus der Auseinandersetzung, ob das Aktionskonzept oder die Realisation als künstlerisches Endprodukt zu betrachten sind, resultiert nicht erst in Konzeptueller Kunst, sondern bereits in Arbeiten der Cage-Nachfolge und des Umfelds von Fluxus eine Textkunst aus verbalen Notationen, die Entscheidungen über die (Art der mentalen/realen) Ausführung dem Beobachter überläßt.13 Die Voraussetzungen dieser Textkunst werden in Konzeptueller
Kunst
Sol LeWitt: Serial Project #1, 1966. Joseph Kosuth: One and Three Chairs, 1965, Stuhl, Foto, Textvergrößerung (englisch-deutsche Fassung), Sammlung Paul Maenz, Neues Museum Weimar . Oben: Galerie Paul Maenz, Köln 1983. Foto: Thomas Dreher. Unten: Foto: Paul Maenz. Charakteristisch für Konzeptuelle Kunst ist nicht
die Einführung neuer Präsentationsformen, sondern die Rekombination
bereits eingeführter Präsentationsweisen,
Art & Language (Terry Atkinson, Michael Baldwin): Print (2 sections A and B), Texttafel, 1966. Detail: Section A. Selbstbezüge der Präsentationsformen werden in Konzeptueller Kunst im Laufe der sechziger und siebziger Jahre als "Reflexivität"16, als Reflexion der Reflexion, gerade durch Fremdbezüge auf die den Status Kunst mitdefinierenden Rahmenbedingungen (bzw. durch die Klärung dieser Bedingungen und ihre Kritik) eingeführt: Die Ausdifferenzierung von Selbstbezügen setzt Fremdbezüge voraus. Die Verschachtelung von Selbst- und Fremdbezug, von Werkkonzept und von im Werk als Thema wiederkehrenden Präsentationsbedingungen, läßt sich als Selbst-(Selbst-/Fremd-)Bezug darstellen. Die Interpenetration von Selbst- und Fremdbezug widerspricht zeitgenössischen künstlerischen Positionen, die künstlerische Arbeit und deren Rezeptionsbedingungen trennen.17 Aus den von Lucy Lippard in "Change and Criticism: Consistency and Small Minds" vorgestellten Beobachtern, die künstlerische Setzungen so gründlich wie möglich als Experten nachvollziehen18, sollen kritische Beobachter werden, die die Vorcodierung ihrer eigenen Art der Kunstbeobachtung in Frage stellen und mögliche Konzepte der Kunst thematisieren können: Es geht den Mitgliedern von Art & Language nicht darum, vorhandene kunsttheoretische Ansätze (mit dem Geltungsanspruch, über den Status Kunst zu entscheiden) durch neue <bessere> Normen zu ersetzen, sondern den Kunstdiskurs zum Diskursiven und Dialogischen, zur Auseinandersetzung mit alternativen Theorien, zu öffnen. Der Dialog setzt restriktionsfreie Zonen zur Schaffung von Alternativen voraus: Eine Kunstkritik mit normativem Geltungsanspruch, wie ihn Greenberg erhebt, wird von einer radikal pluralistischen Kunstreflexion abgelöst. Es bedarf der sozialen Praxis, um restriktionsfreie Diskurse über alternative Kunsttheorien zu ermöglichen.19 Thomas Dreher 2001 (Dieser Beitrag führt in die Website "Thomas Dreher: Intermedia Art" ein und faßt Abschnitte aus verschiedenen Artikeln und Büchern des Autors (s. Anmerkungen) zu einer Skizze der Brechungen von Aktion und Konzept in intermedialer Kunst der sechziger Jahre zusammen. Begriffe wie (Ko-)Akteur, Autor, Künstler, Spielteilnehmer, Beobachter, Partizipant/Teilnehmer und Zuschauer stehen, obwohl sie nur in maskuliner Form verwendet werden, auch für die femininen Varianten (Ko-)Actrice, Autorin, Spielteilnehmerin, Beobachterin, Partizipantin/Teilnehmerin und Zuschauerin. Die kürzere maskuline Form dient nur der Vereinfachung des Satzbaus und verhilft dazu, umständliche Formen wie "die/der KünstlerIn" oder "die Actrice/der Akteur" zu vermeiden.) Anmerkungen: 1
"Intermedia":
Higgins, Dick: Intermedia (1966). Neu in: Higgins, Dick: Horizons. The Poetics
and Theory of the Intermedia. Carbondale and Edwardsville 1984, S.18,20: "Much
of the best work being produced today seems to fall between media...The ready-made
or found object, in a sense an intermedium since it was not intended to conform
to the pure medium, usually suggests...a location in the field between the general
area of art media and those of life media." Vgl. Kirby, Michael: The Art
of the Time. Essays on the Avant-Garde. New York 1969, S.13: "Intermedia-art
that exists between prevalent definitions or makes use of materials and concepts
from two different disciplines." Higgins ergänzt: "Das Wort <Intermedia>
habe ich bei Samuel Taylor Coleridge (1772-1834) wiedergefunden [in: Coleridge,
Samuel Taylor: Coleridge´s Miscellaneous Criticism. London 1936, S.21,31,33].
Er hat schon 1812 [vielmehr 1818] den Begriff <Intermedia> verwendet. Es war
ein vergessenes Wort, bis ich es 1963 wiedergefunden habe." (Peters, Ursula/Schwarzbauer,
Georg F. (Hg.): Fluxus. Aspekte eines Phänomens. Kat. Kunst- und Museumsverein
Wuppertal im Von der Heydt-Museum. Wuppertal 1981, S.221. Vgl. Higgins, Dick:
Horizons, s. o., S.23,120) Außerdem über "Intermedia": Higgins, Dick: Horizons,
s. o., S.15ff.,23-28,30f.,138; Higgins, Dick: Toward the 1970s. In: Vostell,
Wolf (Hg.): Aktionen. Happenings und Demonstrationen seit 1965. Eine Dokumentation.
Reinbek bei Hamburg 1970, o. P.; Higgins, Dick: Statement on Intermedia. In:
dé-coll/age. No.6. Juli 1967, o. P. 2 Kaprow,
Allan: The
Legacy of Jackson Pollock (1958). Neu in: Ders.: Essays on the Blurring
of Art and Life. Berkeley 1993, S.5f. 3
Allan Kaprow über (s)eine Mediengeschichte
von der Malerei und Collage über die Assemblage und das Environment zum
Happening: Nöth, Winfried: Strukturen des Happenings. Hildesheim/New York
1972, S.22f.,34-77, bes. Abschnitt 1-2 mit Kaprow-Zitaten (S.47,49,51). Zur
Entwicklung von Allan Kaprow von 1953-1967: Dreher, Thomas: Performance Art
nach 1945, s. Anm.2, S.85-102,139ff.,250-254,431-435. 4 Allan Kaprow 1966 in: Siegel, Jeanne: Artwords. Discourse on the 60s and 70s. Ann Arbor/Michigan 1985 und New York 1992, S.168f. 5 Kaprow,
Allan-18 Happenings in Six Parts, Reuben Gallery, 62 Fourth Avenue, New York,
4.10.1959, 6.-10.10.1959 (mit Sam Francis, Red Grooms, Dick Higgins, Alfred
Leslie, Robert Rauschenberg, Lucas Samaras, George Segal, Robert Whitman u.
a.), in: Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945, s. Anm.2, S.91ff. (mit Lit.hinweisen). 6
Kirby, Michael/Schechner, Richard:
An Interview with John Cage (1965). Neu in: Sandford, Mariellen R. (Hg.): Happenings
and Other Acts. London 1995, S.53. 7 Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945, s. Anm.2, S.68-91. 8 Hansen, Al: A Primer of Happenings, s. Anm.5, S.96. 9 "Dauer"
und "komplexe Situationen": Cage, John: Silence. Lectures and Writings
(1961). Middletown/Connecticut 1983, S.13 ("duration"), 53, 66 ("situation
of complexity"). 10 Cage, John: Silence, s. Anm.8, S.35-40. 11 "Events"
und "Fluxversions" für "Fluxfests": Dreher, Thomas:
`Après John Cage´, S.59f.; Ders.: Performance Art nach 1945, S.123-127,
Abb.15; Hendricks, Jon: Fluxus Codex. The Gilbert and Lila Silverman Collection.
New York 1988, S.58f.; Sohm, Hanns: Happening & Fluxus, s. Anm.1, o. P. 12 Siegelaub,
Seth (Hg.): January 5-31, 1969. Kat. New York 1969, o. P. 13 Äußerungen
über "Concept Art" im Fluxus-Kontext: Tony Conrads "Concept
Art" (Summer 1961: "To perform this piece do not perform it. this
piece is its name. this is the piece that is any piece. watch smoke" (Hendricks,
Jon: Fluxus Codex. The Gilbert and Lila Silverman Fluxus Collection. New York
1988, S.330), Henry Flynts Artikel "Concept
Art" (In: Mac Low, Jackson/Young, La Monte (Hg.): An Anthology...New
York 1963/21970, o. P.), Robert Watts´ "In the Event"
(s. Anm.9) und Ken Friedman in "Fluxus and concept art" (In: Art and
Artists. October 1972, S.50): "A short definition of concept art as it
came to be practiced might be: A series of thoughts or concepts, either complete
in themselves as work(s), or leading to documentation or to realisation through
external means." (Dreher, Thomas: Performance Art nach 1945, s. Anm.2,
S.127) 14 Kontextkritische
Konzeptuelle Kunst: Dreher, Thomas: Konzeptuelle Kunst in Amerika und England,
s. Anm.2, S.111-126; Ders.: Kontextreflexive Kunst. Selbst- und Fremdbezüge
in intermedialen Präsentationsformen. In: Weibel, Peter (Hg.): Kontext
Kunst. Kunst der 90er Jahre. Kat. Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum. Graz
1993/Köln 1994, S.82-97. 15 Dreher, Thomas: Konzeptuelle Kunst in Amerika und England, s. Anm.12, S.165-199 über frühe Ausstellungen Konzeptueller Kunst und S.39-45,69-89 über Konzeptuelle Kunst, Anti-Form, Arte Povera und Land Art. Vgl. Dreher, Thomas: concept art/minimal/arte povera/land art: Sammlung Marzona. In: das kunstwerk. Oktober 1990, S.53: "Allgemeine Eigenschaften der Kunst um 1970 sind die `armen Materialien´ (Arte Povera), der Wandel von einem geschlossenen Werk zu vielteiligen Arbeiten (Minimal Art und Anti-Form), die nach den auf Zertifikaten mitgeteilten Intentionen des Künstlers zu installieren sind, und eine Konzeptualisierung durch die Brechung der Funktion von Kunst im Kunstwerk (Concept Art). In den verschiedenen Kunsttendenzen tritt der eine oder andere dieser Aspekte vor den anderen." 16 "Reflexivität": Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 21987, S.198f.,211,560-563,601,628f. Vgl. Dreher, Thomas: Konzeptuelle Kunst in Amerika und England, s. Anm.2, S.121 mit Anm.60, 61; Ders.: Kontextreflexive Kunst, s. Anm.14, S.97. Arnold Gehlen versteht unter "Reflexionskunst" (s. Anm.14) die Kunstdefinitionen hinterfragenden experimentellen Formen der klassischen Avantgarde. Konzeptuelle Kunst führt einen semantischen Anstieg von Gattungsgrenzen problematisierenden Intermedia über Modelle mit Theorie-Implikationen bis zu expliziten Diskursen vor (Dreher, Thomas: Konzeptuelle Kunst in Amerika und England, s. Anm.12, S.37,54f.,67, vgl. Summary 1, Summary 3). 17 Die
amerikanischen Mitglieder von Art & Language 1975 in "The Fox"
über die Relationen zwischen Künstler, Kunstbetrieb und Kunstöffentlichkeit:
Ramsden, Mel: Perimeters of Protest. In: The Fox. Vol.1/Nr.1. New York
1975, S. 133ff.: "Review of a pannel discussion at Artists Space,
115 Wooster Street, New York City, February 18, 1975. The eight panelists
were: Carl Baldwin (moderator), Carl Andre, Rudolf Baranik, Mel Edwards,
Hans Haacke, Nancy Spero and May Stevens...It´s depressing to see
people take their work for granted, as if the work itself didn´t
already embody some of this society´s political relations. Except
perhaps for Haacke and one is never sure of Andre, the others didn´t
seem to understand many of their problems resulted from their work itself
and the paradigmatic weight given to the cult of individual art-personalities."
Menard, Andrew/White, Ron: Media Madness. In: The Fox. Nr.2. New York
1975, S.105: "For it seems to me that media have completely penetrated
to the level of art production, that modes of distribution (museums, trade
journals, even television on occasion) are implicitly reproduced in
the work itself, that the form and content of art is in fact determined
by the modes of distribution (media). In the long run, even the judgments
of critics, curators, etc., are not `external´ to our work, but
an integral part of it; indeed, formalist art is uniquely dependent on
the presence of art criticism." Burn, Ian: [Review:] Art-Language,
Volume 3/Number 2. In: The Fox. Nr.2. New York 1975, S.54: "The paradoxes
are obvious: in a cultural world sustained (intellectually and economically)
by the distinction between individual and public, you can´t go on
as if `a public´ didn´t exist (why bother publishing) - at
the same time, you can´t blithely presuppose a public since that
reproduces the very conditions we´re contesting." Vgl. ebda,
S.53f.: "By addressing yourself to an audience, can you avoid
your remarks serving to define that audience? Of course, there
are situations when it is not only important but unavoidable to utilize
this as a strategy...for example, when you are trying to polarize certain
prevailing social conditions along a different axis than is presently
available. In such cases you can´t avoid defining that <audience>
since you are, in effect, <creating> it...or presupposing it as
a possible audience. But, at the same time, taking an audience
as given is one way of guaranteeing its perpetuation, since to a large
extent that means accepting as given the social relations of this audience.
The idea of working to change those social relations means treating this
audience as problematic, it means (I think) not trying to define the same
audience but presupposing a different audience."(Vgl. Dreher, Thomas:
Konzeptuelle Kunst in Amerika und England, s. Anm.2, S.159-163,217-222) 18 Lippard, Lucy: Change and Criticism: Consistency and Small Minds (1967). Neu in: Dies.: Changing. Essays in Art Criticism. New York 1971, S.23-34. 19 Dreher, Thomas: Konzeptuelle Kunst in Amerika und England, s. Anm.2, S.157-163; Ders.: Kontextreflexive Kunst, s. Anm.16, S.91-97. |