Thomas Dreher Konzeptuelle Kunst in Amerika und England 1963-76
Konzeptuelle Kunst ist als letzte amerikanische
Neo-Avantgarde nach `45 ausgegeben worden: Als wäre Konzeptuelle Kunst
Schlußglied einer Kette von aufeinander folgenden Paradigmen der Kunst nach dem
zweiten Weltkrieg von abstraktem Expressionismus über Pop zur Minimal Art. So setzte der Kritiker Achille Benito Oliva 1980 von
Konzeptueller Kunst die neoexpressive Malerei ab, die den Kunstbetrieb der
achtziger Jahre prägte. Oliva führte den Begriff der "Transavantgarde" für
italienische Maler wie Sandro Chia, Francesco Clemente, Enzo Cucchi und Mimmo
Paladino ein1. Dematerialisierung und Textkunst Wer Konzeptuelle Kunst als Begriff
zur Ausgrenzung einer Gruppe von Werken mit bestimmten Eigenschaften anwenden
wollte, dem lieferten 1968 schon Lucy Lippard und John Chandler in dem
Artikel "The Dematerialization of Art" einen Vorschlag. Lippard und Chandler
erkennen das Entstehen einer "ultra-conceptual art that emphazises
the thinking process almost exclusively":
"Such a trend appears to be provoking a profound dematerialization
of art, especially of art as object, and if it continues to prevail, it
may result in the object´s becoming wholly obsolete."2
Als "ultra-conceptual or dematerialized art" sind
dann ebenso Material den Blicken entziehende Werke wie Robert Barrys "Outdoor
nylon monofilament installation" (1.12.1968)3 und Sol LeWitts "Buried
Cube Containing an Object of importance but little value" (1968) als
auch Textwerke wie On
Kawaras "Date
Paintings" (ab 1966) zu verstehen. Robert Barry reduziert in Werken
wie "Outdoor nylon monofilament installation" von 1968 das plastische
Volumen von Skulpturen auf Nylonschnüre. Barry präsentiert Zeichnungen
der Installationen und publiziert Fotos der Ausführung, auf denen das
zu Dokumentierende nicht zu erkennen ist. LeWitt präsentiert "Buried Cube"
in einem 12-seitigen Heft Fotos einer Aktion, bei der ein in einer Stahlbox
aufbewahrtes Objekt eingegraben wurde (1968). Der Prozeß des Unsichtbar-Machens
wird von LeWitt als Fotosequenz eines ephemeren "Earthworks" dokumentiert:
An die Stelle von Objekten treten Zeichen in mitteilenden Funktionen,
wie bei On Kawara. Das Unsichtbar Machen eines materiellen Gegenstandes
(LeWitt), das Präsentieren von sich der Sichtbarkeit entziehenden Objekten
(Barry) ebenso wie die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom visuellen auf
den semantischen Aspekt, vom Icon zum Index, vom Objekt zur Mitteilung
(On Kawara), können unter dem Begriff "Dematerialisierung" subsumiert
werden. Selbst- und Fremdbezug On Kawara verwendet in seinen "Date Paintings"
ab 1966 gemalte Schriftformen zur Information über ein Tagesdatum. Daß dieses
Datum identisch mit dem Entstehen des Bildes ist, das Werk also einen Teil seiner
Signatur auf einer rechteckigen Fläche dort vorführt, wo normalerweise bildnerisch
gearbeitet wird, diesen Selbstbezug kann On Kawara im Werk nicht explizieren.
Da die "Date Paintings" auf kein bestimmtes Tagesereignis referieren, erscheint
die Mitteilungsform wichtiger als die Mitteilung. Die amerikanischen Kritiker Clement
Greenberg und Michael Fried vertraten eine normative, an abstrakter Malerei
orientierte Ästhetik. Dieser "modernism"
oder "formal criticism" hatte in den sechziger Jahren grossen Einfluß auf die
Kunstöffentlichkeit. Greenberg und Fried hoben unter den damals jungen Künstlern
Jules Olitskis Gemälde mit gespritzten Farbverläufen6 als wegweisende zeitgenössische Kunst hervor. Olitskis
gespritzte Werke von 1965 erfüllen die Kriterien "opticality" und "illusiveness"
bei größt möglicher "literalness" ohne die Bildfläche zergliedernde Formen.
Michael Fried erweiterte den Kreis der von Kritikern
des "modernism" zu Vorbildern gekürten Künstler um die Maler Kenneth Noland und Frank
Stella.7 Der Komponist
John Cage gibt 1956-58 an der New Yorker New School for Social Research
Kurse. Dort lernen Künstler wie Allan Kaprow, Dick Higgins, George Brecht, Al Hansen
und andere die in der Musik übliche Trennung zwischen Notation und Interpretation
künstlerisch in verbale Notationen umzusetzen. Die Notationen beziehungsweise
Konzepte beschreiben Möglichkeiten für Multi- und Intermediapräsentationen.
Cages Schüler lernen, "art as idea" und "art as action" (Lippard/Chandler)
als einander korrespondierende Aspekte zu verstehen. Kaprow, Brecht, Hansen,
Higgins u.a. ziehen in unterschiedlichen Happeningformen die Konsequenzen
aus Cages Verzeitlichung des Duchampschen Ready-Made. Cage konzipiert
zufallsorientierte grafische Notationsverfahren für Klarsichtfolien -
unter anderem in "Fontana Mix" (November
1958): Der Interpret legt Kombination und Lage der Klarsichtfolien
sowie die Art der Umsetzung der grafischen Zeichen fest. Cage berücksichtigt den aktionistischen Charakter von
Klangproduktionen. Wenn Cage 1952 in "Water
Music" neben Radio, Pfeife, Wasserbehältern u.a. Objekten in die Aufführung
auch die Notation so integriert, daß sie Akteur und Publikum sehen, nimmt
er durch die Einheit von "art as action and idea"15 die Einheit von `art as document and idea´ in
sich selbst beschreibenden Dokumentationssystemen von Douglas Huebler
vorweg. Als eine zu Kosuths "One and Three Chairs" alternative Konsequenz aus den Fluxus-"Event Cards" lassen sich die Textwerke (ab 1968) von Lawrence Weiner verstehen. Weiner stellt kurze Texte als Werke vor, zum Beispiel: "One Quart Exterior Green Industrial Enamel Thrown on a Brick Wall" (Werk-Nr. 002, 1968) oder "The residue of a flare ignited upon a boundary" (Werk-Nr.029, 1969). Durch die Partizipialform ohne Kopula sind Weiners Textwerke erweiterbar ebenso um "will be" für zukünftige Ausführungen wie um "was" und "has been" für vergangene Aktionen. In Katalogen präsentiert Weiner seine Texte seit Januar 1969 mit einem Statement, daß den Verzicht auf Ausführung und die Möglichkeit einer Ausführung vom Künstler oder anderen Personen der Entscheidung des Empfängers ("receivership") überläßt und jede Entscheidung als übereinstimmend mit den Intentionen des Künstlers erklärt. Verkürzungen des ersten oben genannten Beispiels zu "Thrown" (Werk-Nr.129, 1969) und des zweiten Beispiels zu "Ignited" (Werk-Nr.081, 1969) hat Weiner 1969 ebenfalls als Werk gewählt. Die kontextunabhängige Sprache gewinnt eine Eigendynamik. Die Semantik beschränkt sich nicht mehr auf Aktionen mit Material. Ein Leser kann die Satzellipsen erweitern, bis ausführbare Konzepte entstehen. Solche Erweiterungen wären auch bei Brechts "Three Chair Events" angebracht, um eine Ausführungsnotation zu erhalten. Schon Interpreten von Cages ungewöhnlichen grafischen Notationen mußten und müssen sich Ausführungsnotationen erstellen, um die Notationsschrift in Klangprozesse übersetzen zu können. Eine andere Möglichkeit bei Weiners Textwerken ist,
Textpräsentationen in verschiedenen Kontexten bereits als Ausführung zu
verstehen. Es gibt solche Textpräsentationen auf Ausstellungswänden ohne Angabe,
wie weit diese Realisationen Ausführungshinweisen von Weiner folgen. Mit den
Wandpräsentationen der Texte, die Weiner auf erwerbbare Zertifikate schrieb,
wird zwischen Textkonzept und Realisationen, die Materialprozesse auslösen,
zwischen "art as idea" und "art as action", eine Ebene eingeschoben. Der
jeweilige Ausstellungskontext erweitert, verengt oder transformiert die
kontextunabhängige Textsemantik. In einer
Textinstallation 1978 in Zürich integriert Weiner schließlich auch sein den
Werkstatus, das Verhältnis zwischen Konzept und Realisation, definierendes
Statement22. Dieses Statement expliziert eine Idee über das
Verhältnis von Konzept und Realisation: `art as idea about the relation between
idea and action.´ Das Statement und ein Zusatz, der auf Kooperation mit
Ausführenden verweist, erscheinen im pragmatischen Kontext: Auch das Statement
und der Realisationshinweis werden kontextbedingten semantischen Verschiebungen
ausgesetzt. Textwerke präsentieren Mitglieder von Art & Language kontextkritisch in Kunstausstellungen. Sie problematisieren die im Ausstellungskontext etablierten Kriterien der Bestimmung von etwas `als Kunst´. Die am "modernism" orientierten Kunstkritiker erheben in den sechziger Jahren noch den Anspruch, bestimmen zu können, welchen Präsentationsformen der "Status Kunst" zugesprochen werden kann. Konzeptuellen Künstlern ermöglicht der Wechsel von visuellen Medien zu Textformen eine "meta-art"23, etablierte Definitionen von Kunst mit aus sprachphilosophischer Sicht möglichen Formen der Bestimmung des "Status Kunst" zu konfrontieren. Art & Language überraschen den Austellungsbesucher mit Präsentationen von kunstkritischen Texten an Stellen, die nach Ansicht der Vertreter des "modernism" Werken vorbehalten sein sollen, die rein visuelle Präsentationsformen vorweisen. Die Platzanweiserfunktion der Kunstkritik wird `vor Ort´ in der Austellung und damit vom Standpunkt des Angewiesenen hinterfragt. Mit der Problematisierung wird der Imperativ der Anweisung unterlaufen. In "Print (2 sections A and B)" fragen 1966 Terry Atkinson und Michael Baldwin, ob die Textpräsentation auf Grund der Tatsache, daß sie auf einem Papierträger präsentiert wird, als "art work" gelten kann: "Section A...1. Suppose the question: Is this piece of paper an art work?" Die beiden englischen Mitglieder der Künstlergruppe stellen dem Leser Fragen, die geeignet sind, ihn zu der Ansicht zu provozieren, daß jeder Versuch fehlschlagen muß, eine materielle Eigenschaft als Selektionskriterium für den Status von Kunst, eines Kunstwerkes oder einer Kunstgattung zu bestimmen: "Section A...5. Is there a property possessed by some things in the world which can be identified as art (as `being art´), or even the property of art (this latter of course presupposing that art is a property of things)?" Der Text stellt Definitionstypen von Kunst infrage, die die Leerstelle in dem Satz "`Art is...´" zu klären versuchen, indem sie für die drei Punkte Objekte einer Klasse einsetzen wollen, die durch die Beschreibung und Kennzeichnung von materiellen Eigenschaften bestimmbar ist. Die Gegenfragen lauten, wie jemand zu seiner Kenntnis von solchen Selektionskriterien kommt, woraus ein solches Kriterium besteht und wozu es gebraucht wird: "Section B...4...X asks, firstly, how Y knows what art is, secondly, what use it is." Das Wissen beziehungsweise die Erkenntnis ("knowledge") und der Gebrauch ("use") der Kunst (und der Erkenntnis über Kunst) werden als zu problematisierende Aspekte betont, von deren Konzeptualisierung alle weiteren Bestimmungen abhängen. Die in "Print (2 sections A and B)" von 1966 bereits angelegte Auffassung von Art & Language läßt sich mit Hilfe von Niklas Luhmanns Gliederung in Beobachtungsebenen wie folgt ausdrücken: Der Status von Kunst ist nach Art & Language nicht auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung - der Klassifizierung von Objekten nach ihren äußeren wahrnehmbaren Eigenschaften - zu leisten, sondern im Rekurs auf eine Beobachtung zweiter Ordnung, die nach den Alternativen möglicher Präsentationsformen für Kunst fragt. Die Beobachtung zweiter Ordnung ist nach Art & Language nicht durch eine möglichst plausible Praxis in einer der Alternativen aufzulösen, z.B. durch Body oder Land Art. Die ausgeblendeten Alternativen sollen in den künstlerischen Fragehorizont durch den Anstieg auf die Ebene der Beobachtung dritter Ordnung integriert werden. Auf der Ebene der Beobachtung dritter Ordnung können Beobachtungsmöglichkeiten überhaupt, also verschiedene Arten der Weltbeobachtung, nicht nur der Kunstbeobachtung, hinterfragt werden. Charles Harrison faßte diese Haltung in folgendem Satz zusammen: "There should be no `You can´t walk there, it´s off the map!´"24 So können auch kunstextern entwickelte Beoachtungsweisen auf ihre Tauglichkeit für neue Konzepte im Kunstkontext überprüft werden. Die Art & Language Press hat 1967 den Text "Air-Conditioning Show/Air Show/Frameworks" in 200 Exemplaren als Heft vervielfältigt. Das Thema der drei Texte ist die Möglichkeit alternativer Systeme (Wissen) und alternativer Interpretationen beziehungsweise Anwendungen (Gebrauch) von Systemen zur Bestimmung von Entitäten. Demonstriert wird dies an provokativen Denkmodellen wie "Klimaanlage" und "Luftsäule", die einen Leser von Kunstliteratur, der an ausstellbaren visuellen Objekten interessiert ist, provozieren müssen, da sie seine Erwartungen nicht erwidern. Die Denkmodelle dienen als theoretische Übung in Fragen wissenschaftlicher Bestimmung von Entitäten, die sich der Anschauung entziehen. Die englischen Mitglieder von Art & Language fassen ihren Standpunkt 1972 so zusammen: "The recognition at the end of the 18th Century that matter may exist in one of three states - solid, liquid or gas - was a way of organizing physical science...Some regular `material character´ art of recent years has rung the changes across the old matter-state classification...But from an Art Language point of view all the old ontological worry has become a waste of time; the physical-object naturalistic notion is mostly harmlessly no use. The point is that the `physical object´ individuation method is conceptually weightless."25 1972 entwickeln die amerikanischen und englischen Mitglieder von Art & Language aus dieser Fragestellung in Anlehnung an die Kritik wissenschaftlicher Vorgehensweisen von Imre Lakatos, Thomas Kuhn und Paul Feyerabend die Problemstellung für den Kunstdiskurs, Paradigmen wie den "modernism" durch einen Pluralismus mehrerer, miteinander konkurrierender Kunstkonzepte zu ersetzen: "Unless you constantly address the status quo with a multiplicity of alternatives, the going conventions will become even more entrenched and will then appear, not as conventions at all, but as facts."26 Analog zur "normal science", die konzeptuelle Vorgaben eines von "philosophers of science"27 entwickelten naturwissenschaftlichen Paradigmas ausarbeitet, verstehen Art & Language "modernism" und Objektkunst als "normal art", die sich einem "essentialist/material character/physical-object paradigm (...E/MC/POP)"28 verpflichtet hat, das den Künstlern konzeptuelle Vorgaben liefert. Eine sich der kunsttheoretischen Reflexion entziehende Kunstproduktion soll von einer Grundlagenforschung abgelöst werden, die die Spezialisierung von Experten auf Kunsttheorie, Kunstkritik und Kunstproduktion aufhebt. Also wird auch der Künstler als Grundlagenforscher in kunsttheoretischen Fragen denkbar. Art & Language führen das Denkbare bereits als Praxis vor. Auch zu kohärenten Konzepten lassen sich nach Art & Language Alternativen ausdenken, die die Ausgangssituation für Grundlagendiskussionen zu revidieren erlauben:"The Lakatosian concept of alternatives is that we should be allowed to retain ideas in the face of difficulties and must be allowed to introduce new ideas even if the popular views should appear to be fully justified and without blemish. This strengthens the interplay of alternatives - it´s silly to have alternatives if they ignore each other."29 Ein "paradigm-shift off" an Stelle der Ablösung von Paradigmen "from"-"to" soll das Kunstsystem zu einem herrschaftsfreien Dialog öffnen: "...the term `paradigm-shift´ describes only the action of shifting from a paradigm. One is engaged in a kind of theory-trying."30 Begriffe wie "Dematerialisierung" waren hilfreich bei der Etablierung von Konzeptueller Kunst als neues Paradigma zeitgenössischer Kunst. Die über den Kunstbetrieb reflektierenden Mitglieder von Art & Language kommen zu dem Resultat, daß neue Folgen solcher Paradigmen nicht weiter führen und lehnen eine Auffassung ab, die Konzeptuelle Kunst als neues Paradigma etabliert sehen will. Den Gegensatz zwischen ihrem/ihren nicht nur auf der Ebene der Kunstrichtungen, sondern auch auf (kunst–) theoretischer Ebene pluralistisch konzipierten Kommunikationssystem(en) über Kunst und der realen Institution Kunst mit Instanzen wie Museen, Kunsthandel, Akademien und Kunstkritik thematisieren die amerikanischen Art & Language-Mitglieder Ian Burn und Mel Ramsden 1972-73 in zwei Ausstellungspräsentationen: Die zwei Versionen der "Comparative Models" (Abb. 6, Abb. 7) bestehen aus Annotationen zu je einer Nummer der amerikanischen Kunstzeitschrift "Artforum". In "Artforum" wurden viele Beiträge von Kritikern des "formal criticism" publiziert. Die zweite Version der "Comparative Models", die im März 1973 in der Pariser Galerie Templon zum ersten Mal ausgestellt wurde, kritisiert die Ausgabe von September 1972 des "Artforum". In dieser wurde Rosalind Krauss´ Artikel "A View of Modernism" abgedruckt, der Positionen des "formal criticism" so weit erweitert, daß auch Skulpturen von Richard Serra einem modernistischen Standpunkt zugänglich werden. Krauss erweitert das unmittelbare Sehen des isolierten Werks, dem nach Michael Fried exemplarisch Skulpturen von Anthony Caro entsprechen31, zum `Sehen-Lesen´ eines Werkes. So stellt sie den Prozeß der Beobachtung einer Stahlskulptur von Richard Serra wie "Circuit"32 als Bezug zwischen vorher gesehenen und gerade sichtbaren Ansichten im Gedächtnis des gehenden Beobachters vor. Krauss beschreibt Beobachtungsoperationen als zeitabhängige Aktivitäten des Bewußtseins und modifiziert damit Greenbergs und Frieds Unmittelbarkeitspostulat: "The narrative quality of Serra´s work demands that a given sculpture be seen successively - and that each moment of its perception supersede in affective importance, the viewer´s intuition of the work´s actual structure, whether cruciform or fan-shaped or whatever."33 Krauss öffnet - im Widerspruch zu Michael Fried - den Modernismus zum Minimalismus. Eine Öffnung zum `Sehen-Lesen´ proklamiert Sol LeWitt bereits 1966 in einem Artikel über "Serial Project #1 (ABCD)" im "Aspen Magazine": "Serial compositions are multipart pieces with regulated changes...The series would be read by the viewer in a linear or narrative manner..." Serras Verschiedenheit der Ansichten, die sich dem Beobachter beim Umgehen erschließen, und LeWitts Sequenzierung durch "regulated changes" sind alternative Vorgehensweisen, dem Beobachter "narrative" Sehfolgen nahe zu legen34. Wichtigster Kritikpunkt von Art & Language ist, daß auch Krauss die "Theoriebeladenheit der Beobachtung"35 nicht ausreichend problematisiert. Den Rekurs der Beobachtung zweiter Ordnung auf Beobachtung dritter Ordnung, der für die Mitglieder von Art & Language unverzichtbar ist, umgeht Krauss im Rekurs auf "interiority". Mit Überschreiten des "modernism" durch seine Adepten einerseits und durch die konzeptuelle Kritik der Kritik andererseits wird den Urteilen der Starkritiker des "formal criticism" - Clement Greenberg und Michael Fried - der normative Geltungsanspruch entzogen. "Print (2 sections A and B)" und die beiden Versionen
der "Comparative Models" sind kontextreflexiv. Sie problematisieren die
Bedingungen, die einen freien Rekurs auf Beobachtung dritter Ordnung verhindern,
in dem Kontext, der ihre eigenen Präsentationsumstände konstituiert. Aus
selbstbezüglicher "Kunst-als-Kunst", wie sie Ad Reinhardt programmatisch
vertrat, wird über Konzeptualisierungsstrategien der Kontextreflexion eine
Kunst-über-den-Kunstbetrieb. Der Bezugsrahmen ist nicht mehr allein das Werk,
auch nicht der jeweilige Präsentationsumstand (s. Minimal Art). Bezugspunkte
sind die Prozesse der Etablierung der Codes, durch die die Differenz zwischen
Kunst und Nicht-Kunst markiert wird. Auf pragmatischer Ebene kritisieren Art
& Language - wie andere Fluxus-Mitglieder und Konzeptuelle Künstler - durch
den Wechsel von visuellen Medien zu Textformen einen für den Kunstkontext
typischen Mediengebrauch. Auf semantischer Ebene kritisieren Art & Language
den kunsttheoretischen Legitimationsdiskurs, der diesen Mediengebrauch gegen
Alternativen absichert. Es geht in Konzeptueller Kunst nicht mehr nur, wie noch
bei Fluxus, um "art as idea and action", sondern auch um `art as ideas
concerning the relations between idea and action´ und, in erweiterter Form, um
`art as ideas concerning the institutionalization of relations between idea and
action´. Englische Art & Language-Mitglieder haben 1975 Plakate der Serie "Dialectical Materialism" auf die Wände des Oxforder Museum of Modern Art geklebt. Über kleinen Reproduktionen von Beispielen des russischen Konstruktivismus erscheinen in einem weiteren Bildfeld Klein- und Großbuchstaben sowie Ziffern und Wiederholungen der Abkürzung "Surf.", lesbar als "Surface", "Surfeit"36 oder "Surfing". Die Zeichen sind vorcodierten Ordnungen - Alphabet und Zahlen - entnommen, die nicht nur ihre Form, sondern auch ihre Reihenfolge festlegen. Sie sind `schlechte´ Mittel zur Wiedergabe der Bildzusammenhänge der Vorlage - `schlecht´, weil sie die visuellen Zusammenhänge de(kon-)struieren. Aufgelöst werden narrative Zusammenhänge z.B. in El Lissitzkys "Von zwei Quadraten". Suprematistische Erzählung in zwei Quadraten..."37: Die beiden Hauptaktoren, die Quadrate, erscheinen als Feld verdichteter Zeichenereignisse mit offenen Konturen. Bei schmalen Formen des Vorbildes löst die Öffnung der Konturen das Feld der Zeichenverdichtung auf. Von schmalen Balken bleiben nur zusammenhanglose Zeichen: Die Ausgangsform wird punktualisiert. Wird hier aus dem Icon der Vorlage ein Index zur Lesbarkeit der Zusammenhänge zwischen den Zeichenmengen oder liefern die Buchstaben und Zahlenreihen Indices zur Semantisierung der Zeichenformen der Vorlage? Die Wiederkehr der Text- und Zahlzeichen auf anderen Wandplakaten der Oxforder Installation legt die Möglichkeit der Semantisierung der Bildzeichen als Indices nahe. Die Text- und Zahlzeichen erscheinen vor, neben und über Textabschnitten wie Indices. Allerdings erhalten einzelne Abschnitte mehrere Indices, z. B. Großbuchstabenindices und zwei verschiedene Zahlenindices. Außerdem gibt es Felder, in denen Buchstaben ohne Text- oder Bildbezug verteilt sind: Neben vertikalen Reihen von Großbuchstaben kommen Kleinbuchstaben in vertikalen Reihen vor. Die Kleinbuchstaben wechseln von vertikaler Reihe zu vertikaler Reihe alphabetisch von links nach rechts, also kommt pro Reihe ein Buchstabe vor. Die Buchstaben erscheinen zwar geordnet, doch ist die Häufigkeit der Besetzung der Sparte und der Lücken beliebig. Einzelne vertikale Reihen bleiben unbesetzt. Die Zeichenkoordination schwankt hier zwischen geordnetem Diagramm aus links oben mit "A" beginnendem und sich nach unten und rechts fortsetzendem Alphabet und einer Bildkomposition, diesmal ohne Rekurs auf Vorlagen. Die Elemente von vorcodierten Zeichenserien kommen in
der Oxforder Installation vor Auf einem Wandplakat wird die maschinelle Übersetzbarkeit "symbol after symbol" von zwei Sprachen erklärt, die in "a close semantic relationship" zueinander stehen38. Der Text eines anderen Plakates, das in der Oxforder Installation über dem Wandplakat aufgeklebt ist, das maschinelle Übersetzungsvoraussetzungen erklärt, endet mit dem Satz: "To show that there is no authentic piece by piece relationship between surface structure and conceptual form, various concrete examples might be cited."39 Isomorphe Übersetzung als mögliche Relation zwischen zwei Sprachen und nicht-isomorphe Relation zwischen Oberflächenstruktur und Konzept werden miteinander konfrontiert. Die nicht-isomorphe Relation zwischen Oberflächen & Tiefenstruktur erschwert die isomorphe Übersetzung zwischen Sprachen bis zu ihrer Unmöglichkeit. Auf weiteren Wandplakaten wird die Wechselseitigkeit von vergangenen und zukünftigen gesellschaftlichen Veränderungen beschrieben. Die Veränderungen der Gegenwart ermöglichen zugleich eine andere Zukunft wie einen neuen Blick auf das Vergangene, das seine Bedeutung ebenfalls ändert40. Die rekursive Modifikation der gegenwärtigen Sicht des Vergangenen transformiert wiederum die Sicht auf das in der Zukunft Mögliche: Eine Dialektik im Sinne wechselseitig sich durchdringender Perspektiven auf vergangene und zukünftige Möglichkeiten wird entfaltet. Der ursprünglich an der analytischen Philosophie orientierte Ansatz wird von dieser unter anderem an der "Neuen Rhetorik" von Chaim Perelman41 orientierten Dialektik korrigiert. Zu den drei Verwendungsweisen der vorcodierten Zeichenreihen als Indices und/oder Icons kommen durch Texterläuterungen drei Sprachmodelle hinzu, die Isomorphie, Differenz oder Dialektik (zwischen Isomorphie und Differenz) betonen. Die Wandtexte und die Art des Umgangs mit Indices erklären sich wechselseitig. Die dichte Präsentation von Zeichen in poetischen, phatischen, referentiellen und metasprachlichen Zeichenfunktionen `nebeneinander´ führen zu einer Beobachtersituation, in der die Zeichenfunktionen zueinander in Verhältnissen der `Negation´, der `Spannung´ (als wechselseitige `Negation´) oder des `Gleitens´ lesbar sind. Vermieden werden Relationen der `Affirmation´ und der `Dominante´. "Dialectical Materialism" bezieht drei
Beobachterebenen aufeinander: Ein Zeichengebrauch ohne Reflexion über die Art
der Koordination von Zeichen mit Bedeutungen konstituiert eine Ebene der
Beobachtung erster Ordnung. Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung wird
der Gebrauch der Zeichenfunktionen beobachtet und in Beobachtungen dritter
Ordnung werden die Möglichkeiten der Beziehungen zwischen Zeichenfunktionen
reflektiert. Für Konzeptuelle Kunst
charakteristisch sind: Diese Thesen definieren Konzeptuelle Kunst als eine
Kontextuelle Kunst-über-den-Kunstbetrieb, die die Selbstbezüglichkeit des Ad
Reinhardtschen "art-as-art"-(Anti-)Dogmas von 1962 von der formalen auf eine
metasprachliche Ebene hebt, und den Selbstbezug vom Referenzpunkt Kunstwerk auf
den Referenzpunkt `Institution Kunst´ verschiebt. Diesem "semantischen Aufstieg"42 zur metasprachlichen Reflexion korrespondiert
eine Pragmatisierung durch Selbsteinbettung künstlerischer Arbeit in den Kontext
Kunst. Die Differenz zwischen Selbsteinbettung
in und Anpassung an den Kunstbetrieb wird zum Thema einer kritisch die eigene
Arbeit im Kontext verortenden Reflexion.43 Konzeptuelle Kunst läßt sich als Kontinuum zwischen zwei
Polen rekonstruieren. Das `Feld´ von Konzeptueller Kunst erstreckt sich von
geplanten Werken, deren Realisationen die Relation zwischen "conception" und
"perception" thematisieren, über "semantischen Aufstieg" zu einer theoretisch
orientierten Kunst-über-den-Kunstbetrieb. Es ergeben sich folgende drei
Bereiche:
1
Oliva, A.B.: Im Labyrinth der Kunst, Berlin 1982, S.84f.,96f.
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