Thomas Dreher
Victor Burgin:
The Shadow of the Watchman - or:
Memory-Operations
Kontext-Konzept
Mitglieder der Künstlergruppe Art &
Language, Victor Burgin, Joseph
Kosuth und John Stezaker entwickelten seit Ende der sechziger Jahre
Ansätze zur Kritik etablierter Kunsttheorien. Sie griffen dabei auf linguistische
und philosophische Diskurse über referentielle und metasprachliche Zeichenfunktionen
zurück. Die Codierung von bestimmten Präsentationsformen als Kunstgattungen/Medien
künstlerischen Ausdrucks und die Restriktion auf ästhetische Rezeptionsformen
wurden von Konzeptuellen
Künstlern im Rücklauf auf widersprüchliche historische und soziale
Ursachen dekonstruiert: Kunsttheorie und Kunstbetrieb (Kunstmuseen, Galerien,
Kunstzeitschriften) erwiesen sich als untrennbare Einheit, in der andere
Interessen als die nach Erkenntnis dominier(t)en. Aufgezeigt wurde, wie
wenig durch institutionelle sowie ökonomische Rahmenbedingungen etablierte
Kunstbetriebsregeln Kriterien der Kohärenz genügen, die bei freier Konstruktion
von Spielregeln beachtet werden könnten. Konzeptuelle Kunst im- und explizierte
einen kontextkritischen Ansatz - dazu Burgin 1971 in "Rules of Thumb":
Meaning is not something which
resides within an object but is a function of the way in which that
object fits into a particular context...it is literally as `meaningful´ to
change the context as it is to change the object...art may be a cultural
relationship rather than a cultural entity.1
Aus dem kontextuellen Ansatz
Konzeptueller Künstler ergibt sich eine breite, nicht auf Kunstcodes (meist
Gattungs- und Stilfragen) reduzierte Sicht auf semantische Aspekte.
Selbstorganisation
Burgin zitiert in "Rules of Thumb" Rudolf
Carnaps formallogische Ebenengliederung in Abstraktionsstufen von referentie1ler
zu metasprachlicher Zeichenfunktion, von Denotation zur Konnotation der Konnotation:
Carnap established a hierarchy of
types of description in the ascending order, property description,
relation description, structure description: "A property description indicates the properties which the
individual objects of a given domain have, while a relation description
indicates the relations which hold between these objects, but does not make
any assertions about the objects as individuals", (structure
descriptions are a type of relation but) "...unlike relation descriptions,
these not only leave the properties of the individual elements of the change
unmentioned, they do not even specify the relations themselves which hold
between these elements. In a structure description, only the structure
of the relation is indicated...They form the highest level of
formalisation and dematerialisation.2
Obwohl Burgin mit
diesem Zitat eine Kernthese der analytischen Philosophie aufgreift, interessiert
ihn im Unterschied zu den sich gleichfalls an analytischer Philosophie
orientierenden Mitgliedern von Art & Language und Kosuth weniger
ausschließlich der semantische Anstieg von einer Objekt- zu(r) Metasprache(n),
als - ebenso wie Stezaker3
- der mentale Prozess der Differenzierung in Ebenen. Die
selbstbezügliche Ausdifferenzierung in Ebenen erlaubt es Burgin 1969/70, das
etablierte "concept of personality" durch "a more appropriate `concept of
self-process´"4
zu ersetzen:
... creative behaviour in art has
been seen as directed toward the formation of a `language´...first: the
vocabulary and syntax of this language are empirical derived and, second: at
the level of the `completed´ work, elements of this language assume, in their
mutual relations, an autonomous status subject only to criteria of internal
coherence...Words constitute a symbolic system well adapted to fluent
transitions between physical and psychological referents, a system through
which may be generated alternatives to object orientation.5
Burgin beschreibt hier die Generierung
eines Sprachsystems, das von Erfahrungswerten bis zu symbolischen Strukturen
ausdifferenziert ist, wobei die letzteren wiederum verschieden auf Erfahrung
Bezug nehmen können. Die Ablösung objektbezogener künstlerischer Tätigkeit
durch eine zeichenbezogene dient Burgin 1970 im Unterschied zu zeitgleichen
Ansätzen von Art&Language und Kosuth nicht allein als Anlaß zur Konstruktion
alternativer Kunstkonzepte, sondern zur Rekonstruktion von
Welteinstellungen:
Art does not provide any new
experiences, facts, or concepts - it `rearranges´ these things; it
provides a `frame of mind´ to enclose commonly accessible facts and concepts
we already have.6
Burgin antizipierte 1970 nicht eine
Kunst-über-den-Kunstkontext, sondern schlägt eine Kunst über Informationsformen
vor:
lf we reject the notion that art
is a sub-class of objects, a myth perpetuated through its use as a commodity,
in favour of the view that art is a sub-class of information, then art
appears in the context of an informational complex in which the generative and
modificatory action of real-time experience must be acknowledged.7
1972 wird der Vorschlag für eine Kunst
über Informationsformen erweitert zum Konzept einer Kunst über Lebens- bzw.
Sozialisationsformen:
...The optimum function of art...is
to modify [within the artworld] institutionalised patterns of orientation to
the world and thus to serve as an agency of socialisation.8
"The generative and modificatory action
of real-time experience" ist im radikalen Konstruktivismus die operationale
Seite einer "context[s] of informational complex[es]" generierenden
Selbstorganisation. Die Interpenetration von Operation und Beobachtung, Umwelt
und (Informations-)System, Objekt- und niederstufiger Metasprache, ist selbst
auf der Ebene höherstufiger Metasprache(n) beobachtbar. Im Rücklauf auf diese
Beobachtung der Beobachtung läßt sich die Interpenetration von Beobachtung und
Operation steuern. Aus dieser Steuerung wiederum werden
Operationen in der Realwelt abgeleitet: So schlagen heute radikale
Konstruktivisten eine Brücke von Selbstbeobachtung zur Aktion.9 Burgin beschreibt diese Selbstorganisation in Anlehnung an
naturwissenschaftliche Forschungen der sechziger Jahre über Systeme der
Selbstorganisation10
als "self-process".
In die selbstbezogene Metasprache kann die Diskussion, wie Referenz bzw. Fremdbezug
möglich ist, eingebettet werden. Beim Umgang mit Objektsprachen läuft die metasprachliche
Konzeptualisierung möglicher Objektsprachen mit. Selbstorganisation läßt sich
ausdrücken als Interpenetration von Operation und Beobachtung mittels mitlaufender
Beobachtung der Beobachtung. Niklas
Luhmann beschreibt 1984 autopoietische Systeme:
Durch Selbstreferenz wird rekursive,
zirkelhafte Geschlossenheit hergestellt. Aber
Geschlossenheit...ist...Bedingung der Möglichkeit für Offenheit..., weil
selbstreferentielle Operationen nicht den Gesamtsinn absorbieren, nicht
totalisierend wirken, sondern nur mitlaufen...Insofern ist in empirischen
Systemen immer schon vorgesorgt für das, was den Logikern Sorge bereitet für
die "Entfaltung" reiner Tautologien zu komplexeren, inhaltlich gehaltvollen
Selbstreferenz-Systemen...Der bekannteste Ausweg der Logiker ist die
Unterscheidung von Ebenen bzw. Typen, mit Bezug auf welche Aussagen verortet
werden.11
Luhmann stellt Selbstorganisation als sich
wechselseitig ergänzende Gegenbewegungen in der Zeitdimension zwischen einer
Ausdifferenzierung von Möglichkeiten der Fremdbezüge und einer selbstbezüglichen
Abstraktion zur Komplexitätsreduktion vor. Diese Auffassung von Selbstorganisation
als Prozeß der Interpenetration von Komplexierung und Komplexitätsreduktion
in der Konstruktion von Umweltbezügen liefert die in Burgins theoretische Äußerungen
fehlende Klammer zwischen dem 1969 in "Situational aesthetics" erwähnten "concept
of self-process", der Thematisierung der Zeitdimension in Beobachtungsoperationen
seit "Memory Piece" von 1969 (s. u.) und der Ebenen-Gliederung im Carnap-Zitat
1971 in "Rules of Thumb". Burgin plädiert für eine sich in Relation zu Sozialisationsformen
ausdifferenzierende selbstbezügliche Kunst.
"`Folding back' upon
itself"
Burgin erweitert 1987 in "Geometry and
Abjection"12
den Ansatz des "concept of self-process". Der cartesianischen Trennung zwischen
geometrischem Raster und auf diesem lokalisierbaren Gegenständen, einer
Figur-Grund-Dichotomie, hält er die Wechselseitigkeit von Faltendem und
Gefaltetem in sich selbst organisierenden (Raster-)Transformationen
entgegen:
One of the phenomenological effects of the public
applications of new electronic technologies is to cause space to be
apprehended as `folding back´ upon itself...To contemplate such phenomena is
no longer to inhabit an imaginary space ordered by the subject-object
`stand-off´ of Euclidian perspective.
Den "process of imploding or
`unfolding´"13
räumlicher Strukturen führt Burgin 1987 zurück auf neue Technologien und die
Raum- und Zeitorganisation, die daraus in postmateriellen kapitalistischen
Wirtschaftsstrukturen resultiert. Bereits 1969 schlug er einen Bruch mit
klassischen Dichotomien und euklidischer Geometrie vor:
Locations such as those given by the National Grid are
fixed by definition, but the actual spaces to which they refer are in
continual flux and so impossible to separate from time… the consciousness of
process… The recognition of multiplicity of times, the concentration on
process and behaviour…In this state of awareness the distinction between
interior and exterior without times, between subject and object, is
eroded.
1969 stellt Burgin noch die Öffnung
von selbstbezüglichen geschlossenen Systemen als "counter-conservative"14
vor. Eine "interaktive" multimediale Welt wird 1969 als
utopisches Potential zur Entfaltung der ,,polymorph-perversen" menschlichen
,,Veranlagung"15
exponiert, 1987 aber wird die massenmediale Informationsverbreitung als Ursache
einer Dezentrierung des Subjekts problematisiert: Spektakelserien aus
Unzusammenhängendem bedrohen und ersetzen die Utopie psychischer Entfaltung.
Beobachterzentrierter, in sich
zurückgekrümmter Raum
Das Konzept ,,extramundaner Subjekte"
wird im radikalen Konstruktivismus
ersetzt durch "unterschiedliche Formen und Grade der Personalisierung sozialer
Systeme".16
Personale Systeme werden konstruiert als alternierend in einem sozialen System
Handelnde und es Beobachtende. Subjekte sind zugleich in ihren Kontext eingebettete/eingefaltete
und den Kontext ausfaltende reflektierende Akteure. Die Trennung von Beobachtung und Operation verhindert eine
Selbstbeobachtung, die sich in reinen Tautologien - ,,in einer Erinnerungsleistung
des Typs Gertrude Stein: Rose is a rose is a rose is a rose"17
- erschöpft. Die Ablenkung durch fremdbezügliche Operationen wird in selbstbezügliche
Beobachtungen integriert. Das Ablenkende transformiert das Abgelenkte.
Das transformierte Abgelenkte transformiert wiederum das ursprünglich Ablenkende.
Vorlauf auf zukünftige und Rücklauf auf vergangene Operationen werden in Beobachtungen
im Rekurs auf Meta-Beobachtung nach dem Prinzip der ,,vorlaufenden Verspätung"18
miteinander verknüpft.
Der Beobachter kann sich selbst nicht außerhalb der Welt verorten, in
der er operiert, da jeder externe Beobachterstandpunkt wieder zu weiteren
Explikationen von einem ihm übergeordneten Denkrahmen führen müßte, in
dem er wiederum als interner Bestandteil enthalten ist. Rupert Riedl hat das Verhältnis von Beobachtung und Beobachtungsoperation
mittels einer inklusive Zeitdimension vierdimensionalen ,,in sich zurückgekrümmten
Raum[-Zeit]" veranschaulicht, in der sich der Beobachter in einem Denkraum
selbst durch Beobachtung der Beobachtung verorten kann, während der Standpunkt
im Realraum für den Beobachter unbeobachtbar, blinder Fleck, bleibt.19
Diese
Differenz zwischen der Selbstverortung im realen, euklidisch rekonstruierbaren
und im in sich zurückgekrümmten mentalen Raum läßt sich mittels Gedächtnis
(durch mitlaufende Erinnerung an die Erfahrung im einen beim Aufenthalt im
anderen Raum) überbrücken: Beobachtungsoperationen im euklidischen Raum und
Beobachtung der Beobachtung im in sich zurückgekrümmten Raum-Zeit-Kontinuum
lassen sich gegeneinander falten: Relationen zwischen der
Selbstorientierung im Realraum mit linearer Zeit, in dem Aktionen ausgeführt
werden (können), und der Reflexion im in sich in ,,vorlaufende[r] Verspätung"
zurückgekrümmten Denkraum sind über (die Anwendung einer der möglichen Weisen
der) Ebenengliederung ausdifferenzierbar.20
"Memory Piece"
"Memory Piece" (1967) (Abb.1) stellt Burgin 1969 in "situational
aesthetics" als "two rope triangles placed in Greenwich park" vor:
1. Two units co-exist in
time. 2. spatial separation is such that units may not simultaneously be
directly perceived. 3. Units isomorphic to degree that encounter with second
is likely to evoke recollection of first.21
Zwei Fotos in "Situational aesthetics"
zeigen je eine von zwei "Units" in perspektivischer Verzerrung: Die Reproduktion
nur eines Elementes pro Foto des nicht in einem Blick überschaubaren,
Erinnerungsleistungen fordernden Realisats ist ein Gag. Diese Illustrationen
verweisen in ihnen nicht reproduzierbare (aber im Konzept antizipierte)
Beobachtungsoperationen der Rezeption und ihre Rückkoppelung an ein rekursives
Gedächtnis, an mitlaufende Beobachtung der Beobachtung: Der räumlich entfaltete,
sequenzierte Werkgegenstand wird als Folge von in der Zeitdimension ineinander
gefalteten Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozessen rezipiert. Wahrnehmung,
Erinnerung und reflexive Rekonstruktion des räumlichen Zusammenhangs von als
Zeitsequenz Erinnertern sind aufeinander folgende Ebenen eines gefalteten
Selbstbezugs, für den die "Two Units" beliebige Anlässe sind.
"Park
Edge"
In "Park Edge"
(Abb. 2, Abb. 3) 22
repräsentiert Burgin ein Diptychon, zwei quadratische Tafeln mit Piktogrammen
aus Resopal/Formica neben einer kleinen Texttafel. Koordinationsmöglichkeiten
zwischen Textabschnitten und Piktogrammen werden im folgenden durchgespielt.
Burgin bezieht sich 1987 sowohl in "Park Edge", dort in
Abschnitt "K" der Texttafel, als auch in "Abjection and Geometry" auf Jacques
Lacans Verwendung topologischer Figuren. Das
metonymische Gleiten des Begehrens läßt sich mit Lacan in Figuren des Torus, des
Möbiusbandes und der Kleinschen Flasche übersetzen23,
die nach Ranulph Glanville eine ,,Kontinuität des Rollenwechsels" in
Innenbrechungen ermöglichen. Ein Punkt, der sich in einem Möbiusband oder einer
Kleinschen Flasche bewegt, erscheint einem externen Beobachter ,,zuweilen auf
der Innenseite zuweilen auf der Außenseite", ,,obwohl es...weder Innenseite noch
Außenseite gibt." In der Zeitdimension läßt sich
ein "Rollenswitch" zwischen ,,Selbstbeobachten und Selbstbeobachtetwerden"
ausdifferenzieren. Getroffene Unterscheidungen brauchen als
Selbstunterscheidungen ,,nicht länger einen vorgängigen Raum, da die
Unterscheidung den Raum nicht mehr spaltet."24
Die Dichotomie Figur-Grund der euklidischen
Geometrie ist auf diese Weise in einer topologischen Struktur aufgehoben, die
auch Modelle für die ineinander verschlungenen psychischen Kräfte liefert,
welche Lacan als «Désir de la Mère» und als «Nom-du-Père» bezeichnet.25 Burgin
schreibt in "Geometry and Abjection", "Fold over spaces" mit der ,,Kontinuität
des Rollenwechsels" verbindend:
The analogies which fit
best are now to be found in non-euclidean geometries - the topologist's Möbius
strip, for example, where the apparently opposing sides prove to be formed
from a single, continuous, surface.26
In "Park Edge" kombiniert Burgin Aspekte
der Geometrie, der Zentralperspektive, der Politik des Städtebaus und der
Technologie inklusive Bildmedien. Die Schlüsselstellung kommt in Text- und
Bildteil Raster, Silhouetten und nicht-euklidischen topologischen Figuren zu.
Sigmund Freuds Darstellung von Wahnphantasien aus Angst vor einer Gewalt, die
die Grenze zwischen Subjekt und Außenwelt bedroht (s. "P"), wird von Burgin im
Textteil die Fiktion der absoluten Aufhebung dieser Grenze durch "viral
informations" (s. zweites "E") entgegengesetzt. Im Wahn (1) oder via "viral
informations" (2) löst sich die Selbstorganisation von innen (1) oder von außen
(2) auf. Wo bleibt der individuelle Spielraum zwischen Angst vor der Auflösung
der Grenze Subjekt-Umwelt und der Auflösung, der Dissoziation des Ich durch
Entgrenzung?
Die Piktogramme des Diptychons werden les- bzw. interpretierbar
vor dem Horizont der Semantisierungsofferten, die die Texttatel liefert.
Auf der linken Seite der linken Tafel sind Figuren aus dem Repertoire
der Wahrnehmungstäuschungen zu sehen, in denen nach Art des Dreibalkens
von Roger
Penrose Innen- und Außenseite analog zur Kleinschen Flasche ineinander
verschlungen sind. Die rechte Bildhälfte der linken Tafel zeigt ein Raster
aus schwarzen Rechtecken, das von einem grauen Rechteck unterbrochen wird.
Dies korrespondiert mit Burgins Beschreibung der "ideal city" Adelaide,
die 1788 gegründet und mit einem Park außerhalb des rasterförmigen Straßennetzes
realisiert wurde, sowie mit "the inverted figure": Der die Stadt umfassende
und von ihr umfaßte Park – "Metropolis in Arcadia" (s. "A") und
`Arcadia in Metropolis´ (vgl. Central Park in Manhattan Island/New York
City). Für das "Euclidean universe" (s."K") steht das Raster als Piktogramm.
Die Verbindung zwischen gerasterter Idealstadt und Zentralperspektive
stellt Burgin im Textteil unter "A" und "K" her: Er führt das "Euclidean
universe of classical European painting" auf "the definitive separation
of bodies in a space delimited by the framing edge" und damit auf die
Raster/Figur- bzw. Straßenplan/Block (oder Zeile)-Trennung zurück, die
die Stadtplanung der Antike und seit der Neuzeit bestimmt. Die rechte
Bildtafel zeigt rechts eine Silhouette eines Gehenden mit kurzen Haaren,
Jacke und Tasche - männlichen Attributen. Raster und männliche Figur sind
offensichtlich zwei Zeichenkomplexe, die für ein patriarchalisches "Euclidean
universe" stehen.
Die linke Seite der rechten Tafel zeigt schwarze und weiße Balken, die sich
teilweise zu lesbaren Formationen ordnen: "x it!" ist vertikal von unten nach
oben lesbar. ,,x" ist als variable, aber auch als Kreuz lesbar, das für Durchstreichen
stehen kann. "lt" ist als Sigmund Freuds ,,Es",
als Bezeichnung für das Unbewußte, dechiffrierbar. "lt" kann mit ,,x" durchgestrichen
werden: Über die Instanz des Über-Ich kann es dem Ich in Freuds Modell durch
Sublimation gelingen, die Triebkräfte des Es zu bändigen. Freuds ,,Unbehagen
in der Kultur"27
verursacht durch die Notwendigkeit der Sublimation, steht Lacans
Modell der ineinander verschlungenen Kräfte gegenüber, veranschaulicht am Denkmodell
der Kleinschen Flasche (s. "K"), mit dem die Innenbrechungen der Penrose-Dreibalken
auf der linken Seite der linken Bildtafel vergleichbar sind. "X" ist, wenn es als Zeichen für Streichung verstanden
wird, Ausdruck für das "it" als blinder Fleck des Ich, das Lacan mit einem durchgestrichenen
,,S" für ,,Subjekt" ausdrückt. "X" ist auch Zeichen für einen ,,Chiasmus", "the
trope of mirroring" (s."D") und damit für Lacans Beschreibung der Selbstbeobachtung
im «regard par moi imagine au champ de 1' Autre»: «je me voir me voir.»28
Die
Balkenformationen sind auch als "xit!" les- und erweiterbar zu "exit!". Einen
"Exit" aus dem Unbewußten gibt es mit Lacan nicht, dafür jedoch Bewegungen "ex
it", von Unbewußtem zu Bewußtem, ,,aus Es" zu Ich. Ein Comic aus Toronto mit
dem Titel "Mr.X" lieferte Burgin die Anregung für das "x" auf der Tafel. Die
Comicfigur “Mr.X“ ist Architekt, der nach Auffassung eines engen Zusammenhangs
zwischen urbanen und psychischen Strukturen die “psych-architecture“ einer neuen
Stadt konzipiert, die soziale Harmonie garantiert. Die finanziellen Interessen seines Partners
korrumpieren mit den im Stadtplan angelegten Winkeln auch das Sozialleben von
deren Bewohnern.29 Es
liegt nahe, die Bild- und Texttafeln von “Park Edge“ als “psych-architecture“ in
einem über den Comic “Mr.X“ weit hinausreichenden Sinn zu verstehen. Die beiden
Hälften der beiden Tafeln korrespondieren miteinander: links die
nicht-euklidischen topologischen Figuren und rechts die euklidischen. Die
Silhouette als Figur auf/im Grund und das graue Rechteck im schwarzen Raster
umspielen in beiden rechten Hälften das Thema der Verhältnisse von Einzelner und
Masse in der Großstadt auf der Folie des “Euclidean universe“. „xit!“ läßt sich
als Kommentar zu Wahrnehmungstäuschungen evozierenden Figuren ebenso lesen, wie
letztere ersteres kommentieren: Es gibt kein Entrinnen aus Täuschungen, lautet
die Botschaft der linken Bildhälften. Durch den Wechsel von linken und rechten
Bildhälften werden die um die euklidischen und nicht-euklidischen topologischen
Felder gruppierten Problemfelder miteinander verschränkt.
Die beiden Tafeln
präsentieren Piktogramme, keine "Tableaus" als Darstellung von Szenen in der
Tradition der Historien- und Landschaftsmalerei des 15. bis 19 Jahrhunderts, des
"Euclidean universe of classical European painting" (s. "A"). Burgin provoziert
mittels der Textabschnitte Deutungen der Piktogramme, verwandelt sie in
,,Hieroglyphen".30
Während Werber Warensignets in Medienverbünden distribuieren, die Kontexte für
laufende Resemantisierung liefern, setzt Burgin keine Konnotationen fest,
sondern assoziiert die Piktogramme lose mit dem Bedeutungspotential der
Texttafel.
Auf der Texttafel wird die Buchstabenfolge "Park Edge" aus
einem Verfahren der Initialenkombination generiert: Eine neue Bedeutung wird im
Rücklauf auf Ordnungen des Zeichenmaterials, nicht im Rekurs auf eine dritte,
die semantischen Felder aller Zeichen integrierende Sinn-Ebene, gewonnen. Die
Bedeutungen der Wortkombination "Park Edge" wiederum reflektieren dieses
Verfahren, von Tableaus, die die pittoreske Parkform in Arkadien repräsentieren
(s. "A"), zur Sinn parkenden und als leere Hülle geparkten Form des Piktogramms
zu gelangen. Zugleich kann die Wortkombination "Park Edge" als Kommentar zur
Silhouette und ihren Aspekten zwischen der Entleerung der Binnenformen und ihrer
imaginären Füllung als Projektionsfläche oder Schatten wirklicher Figuren (s.
"G") verstanden werden. Die Wortkombination "Park Edge" dient als
Stichwort-Lieferant für eine Interpretation des nicht einsträngigen, brüchigen
Zusammenhangs zwischen den Textabschnitten: Bild-
und Textteile liefern die Metonymien, die "Park Edge" als Metapher zu erkennen
erlauben, die wiederum auf den Grund des metonymischen Gleitens, auf den
,,phallischen Signifikanten"31
als leere Hülle, verweist.
"Park Edge" wird im Bild-Diptychon gebrochen
zwischen den euklidischen rechten und nicht-euklidischen linken Bildhälften: Das
Werk "Park Edge" provoziert dazu, nicht-euklidische Raum-Zeit-Kontinua und
euklidische dreidimensionale Axiome, mentale Raumvorstellungen und
Selbstverortung im Realraum, gegeneinander zu falten - als mentale Gegenbewegung
zu statischen `geparkten Formen´: Das Werk apelliert an Erinnerung und
Gedächtnis, die im zweidimensionalen Nacheinander präsentierten Piktogramme
aufeinander zu beziehen, und zwingt so zur ,,Verwerfung" seines statischen
Präsentationsmediums.
Julia
Kristeva rekonstruiert das psychische Verhältnis zwischen dem einen Sinn
und dem unaufgelösten Vielen nicht wie Roland Barthes als Arbeit zwischen phallisch
Geflochtenem und "bewegungslosen Fäden", sondern als Verhältnis zwischen Phallus
und seiner "Verwerfung" durch ,,Negation".32
Burgin greift in "Geometry and Abjection" auf diesen Ansatz Kristevas zurück.
Auch zur Klärung des Zusammenhangs zwischen Interpretationsofferten und Interpretationsblockade
in "Park Edge" kann Kristevas Ansatz beitragen. Ihr poetisches Modell
einer De-Syn-Thetisierung («de-syn-thetiser»33) des Symbolischen
durch Semiotisches («signifiance»34) bettet in Carnaps
semantischen Anstieg von fremdbezüglichen zu konnotierend selbstbezüglichen
Sätzen eine Gegenbewegung ein, die nicht zum Fremdbezug auf sprachexterne Realität,
sondern zur sprachinternen Materialität, zum Selbstbezug zwischen Zeichenformen,
zurückführt: Informationen denotieren - wie die Initialen der Texttafel von
"Park Edge" - ihr Medium, ohne die Differenz zu diesem als zugleich Konnotierende
und externe Referenten Denotierende aufzugeben.
Thomas Dreher 1993
Anmerkungen:
1
Burgin,V.-Rules of Thumb, in: Studio International, May 1971, S.38f.; zugleich
in: Kat. Ausst. The British Avant-Garde, The New York Cultural Center, New York
1971
2
Burgin, s. Anm.1, S.38. Deutsches Original des Zitats in:
Carnap, R.-Der logische Aufbau der Welt [1928]/Scheinprobleme in der Philosophie
[1928], Hamburg 1961 (2. Aufl.), S.11,13,15
3
Stezaker,J.-Two Approaches, in: Kat. Ausst. The New Art, Hayward Gallery, London
1972, S.56ff.
4
Burgin,V.-Situational Aesthetics, in: Studio International, October 1969, S.121,
Anm.8 (Vgl. Jean Piaget: «L' intelligence ne débute ainsi ni par la connaissance
du moi ni par celle des choses comme telles, mais par celle de leur interaction,
et c'est en s'orientant simultanément vers les deux pôles de cette interaction
qu'elle organise le monde in s' organisant elle-même.» In: Ders.-La construction
du réel chez l´enfant [1937], Neuchatel 1977, S.311)
5
Burgin,V.-o. T., in: Lamelas, D.-Publication: Responses to three Statements,
London 1970, S.10f.
6
Burgin, s. Anm.1, S.39
7
Burgin, s. Anm.5, S.11
8
Burgin,V.-Lecture...August 1972, in: Deurle 11/7/73, MTL Galerie, Brüssel 1973,
o. P.
9
Baecker,D.-Überlegungen zur Form des Gedächtnisses, in:
Schmidt,S.J. (Hrsg.)-Gedächtnis..., Frankfurt a. M. 1992, S.348-354
10
Paslack,R.-Ursprünge der Selbstorganisation, in: Rusch,G. u. a. (Hrsg.)-Konstruktivismus:
Geschichte und Anwendung, Delfin 1992, S.59-90
11
Luhmann,N.-Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.
M.
1987, S.606 mit Anm.23
12
Burgin,V.-Geometry and Abjection, in: AA files, Summer 1987, S.35-41
13
Burgin, s. Anm.12, S.36,37. Zu ,,Falte" und ,,Entfaltung": Barthes,R.-S/Z, Paris
1970, Kap. XXXVI; Kristeva,J.-Le révolution du language poétique..., Paris 1974,
S.68; Luhmann, s. Zitat oben und Anm.11; Wiener,0.-Probleme der künstlichen
Intelligenz, Berlin 1990, S.24f.,77ff.
14
Burgin, s.Anm.4, S.121
15
Freud,S.-Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a. M. 1991, S.93. Dazu
Burgin, s. Anm.4, S.121; Burgin, s. Anm.30, S.100
16
Luhmann, s. Anm.11, S.145,155
17
Baecker, s. Anm.9, S.348
18
Baecker, s. Anm.9, S.350
19
Riedl,R.-Die Folgen des Ursachendenkens, in: Watzlawick,P. (Hrsg.)-Die erfundene
Wirklichkeit..., München 21985, S.75. Vgl. Burgin, s. Anm.12, S.41 (Anm.11)
20
Zu Faltungen von Faltungen: Deleuze,G.-Le pli: Leibniz et le Baroque, Paris
1988. Vgl. d. A.-Kontextreflexive Kunst, Abschnitt IV.3.-IV.7., in: Kat. Ausst.
Kontext Kunst, Fabrik Lastenstraße 11 und Künstlerhaus, Graz 1993/Köln (Du Mont)
1995, S.102-107
21
Burgin, s. Anm.4, S.120
22
Kat. Ausst. V.Burgin-Passages, Musée d'art moderne, Villeneuve d'Ascq, Ville
de Blois 1991, S.107-113
23
darüber Burgin, s. Anm.12, S.39.
24
Glanville,R.-Objekte, Berlin 1988, S.149-166, bes. S.153-155
25
Lacan,J.-Du traitement possible de la psychose (1957/58), in: Ders.-Ecrits II,
Paris 1971, S.68t.,73. Vgl. Lacan,J.-Le séminaire, livre XI: Les quatres concepts...,
Paris 1973, S.243ff.; Zizek,S.-Hitchcocks Universum, in: Ders. (Hrsg.)-Ein Triumph
des Blicks über das Auge: Psychoanalyse bei Hitchcock, Wien 1992, S.224
26
Burgin, s. Anm.12, S.36
27
Freud,S.-Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930
28
Lacan,J.-Le séminaire..., s. Anm.25, S.76,79, und zum Verhältnis Tableau-Raster
in der Zentralperspektive s. S.81f.
29
Burgin, s. Anm.22, S.112
30
Zu "Tableau" und ,,Hieroglyphe": s. Burgin,V.-The End of Art Theory, Hampshire
1986, S.19,114f.,119, 129f.,138
31
Lacan,J.-La signification du phallus, in: Ders.-Ecrits II, Paris 1971, S.108f.
32
Kristeva, s.Anm.13, S.67f.,134-150. Vgl.dagegen Barthes, s. Anm.13, Kap.LXVIII
33
Kristeva, s. Anm.13, S.68
34
Burgin, s. Anm.30, S.22
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