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Thomas Dreher

 

Der Beobachter als Akteur in Happenings
und umweltsensitiven Installationen

Eine kleine Geschichte der re- & interaktiven Kunst


I. Re- und Interaktion in künstlerischen Modellen

Jedes reaktive Datensystem, das dem Benutzer die Wahl zwischen Alternativen läßt, wird in der Werbesprache der Computerbranche als `interaktiv´ bezeichnet. Bescheidener wird in der Forschung über Künstliche Intelligenz von lernfähigen Systemen gesprochen, die "über Bewertungskriterien verfügen", durch die sie "über die Ausgestaltung der Reaktionsweise f mitentscheiden können." (Döben-Henisch) Die Entwicklung einer multimedialen, an keine etablierten Gattungskriterien gebundenen Kunst wird im folgenden in ihren reaktiven und interaktiven Brechungen vorgestellt. Als `reaktiv´ werden starre Systeme mit vorprogrammierten Reiz-Reaktions-Mustern bzw. Sensorinput-Agentoutput-Relationen bezeichnet. Der Begriff `interaktiv´ bleibt dem Dialog zwischen lernfähigen Kommunikationspartnern vorbehalten.

Der Unterschied zwischen einer Partizipation von Beobachtern am Happening und der Beobachteroperation in einem programmierten System erfordert eine Differenzierung zwischen Direktaktion mit Aktionsteilnehmern und der Aktion an der Schnittstelle zu datenverarbeitenden Systemen. Im philosophischen Diskurs über Interaktion schlägt sich die Differenz zwischen intentionsorientierten (Searle) und systemorientierten Ansätzen (Luhmann) in unterschiedlichen Einstellungen zur Geist-Maschine-Relation nieder: Mit dem intentionsorientierten Ansatz wird die Differenz zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz als unüberschreitbare bestimmt, während sich aus dem systemtheoretischen Ansatz keine Notwendingkeit zu einer absoluten Differenzsetzung ergibt. Die Unterscheidung von Graden der Komplexität der Datenverarbeitung, der Lernfähigkeit und der Selbstorganisation erlauben genügend Differenzierungen zwischen kognitiven menschlichen Fähigkeiten und maschinengesteuerten Systemen. Die Terminologie für das Folgende orientiert sich an einem systemtheoretischen Ansatz.

Beobachter in inter- und reaktiven Systemen operieren systemintern in Bezug auf den Kontext, den das Werk konstituiert, und in Bezug auf Weltbeobachtung. Der Werkkontext kann als Modell von Weltbeobachtung über Kunstbeobachtung hinaus auch auf nicht kunstspezifische Beobachtungsaspekte weisen: Künstlerische Präsentationsformen, die auf kunstextern entwickelten Medien basieren, legen schon qua Medien nahe, daß hier eine Grenze zwischen Kunst- und Weltbeobachtung beschritten wird und daß die Kunstbeobachtung als eine Brechung der Weltbeobachtung, nicht als eine Abtrennung von Welt aufzufassen ist. Bei reaktiven Installationen enthält die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine modelltheoretische Probleme, die Kunstbeobachtung als auf Schnittstellenprobleme bezogen ausweisen, die (auch) Teil der Weltbeobachtung sind. Der Beobachter reflektiert von einem umfassenderen Denkrahmen, auf der Ebene der "Beobachtung der Beobachtung" (Luhmann) über modelltheoretische Probleme, wenn er die in einer Installation vorgefundene Situation auch vor dem Horizont dessen, was sie ausschließt, einordnen können will: Er denkt mittels ihm vorstellbarer Modelle der Weltbeobachtung über eines dieser reaktiven oder interaktiven künstlerischen Modelle, das ihn in einer bestimmten Weise in einer Umgebung lokalisiert.

Der Beobachter verschafft sich mit anderen Beobachtern in der Installation durch Operationen im Raum, an Schnittstellen zu datenverarbeitenden Systemen, Informationen über Eigenschaften des künstlerischen Konzeptes. Die Konzeptualisierung von alternativen Weltmodellen überschreitet nicht Weltbeobachtung, sondern bricht sie in zwei Ebenen: Eine der "Beobachtungsoperation" (Luhmann) im Rahmen eines als Installation exmplifizierten Modells der Weltbeobachtung und eine der "Beobachtung der Beobachtung" im Vergleich alternativer Modelle.

Ein Weltmodell-externer Beobachter, der von einem "archimedischen Punkt" wie das Auge Gottes (Feyerabend) auf Modelle der Weltbeobachtung blickt, ist ein für das Folgende irrelevantes Konstrukt. Reaktive und interaktive künstlerische Modelle sind beobachterzentriert: Der Wechsel zwischen modell- bzw. installationsinternen Positionen geschieht durch Beobachteroperationen wie Gehen und Augenakkomodation. Die gewonnenen Daten verhelfen zu einer Rekonstruktion des künstlerischen Modells in "Beobachtungsoperationen", die früher und später Erlebtes aufeinander beziehen. Dieses mentale Modell enthält ein `Bild´ der Reaktions- und Interaktionsmöglichkeiten des künstlerischen Modells, das in Form eines "`participation´ Happening" im Realraum oder über Telekommunikation oder als reaktive Installation präsentiert wird. Was sich am realisierten künstlerischen Modell in der Zeitdimensionan maschinellen Reaktionen und Interaktionen zwischen Menschen beobachten läßt, wird im mentalen Modell als im künstlerischen Modell angelegtes System von (Re- & Inter-)Aktionsmöglichkeiten rekonstruiert. Mit dem mentalen Modell versucht der Beobachter vorhersehen zu können, was das in einer exemplarischen Realisation vorliegende künstlerische Modell an Aktionsmöglichkeiten über die in Beobachteroperationen erfahrenen Ereignisse hinaus `aktualisieren´ kann. Das mentale Modell konzeptualisiert Erlebtes als System von Kombinationsmöglichkeiten eines begrenzten Spektrums von Elementen vor dem Horizont des durch Selektion Ausgeschlossenen. `Selektion´ bezieht sich sowohl auf die Wahl der Elemente wir der Kombinationsmöglichkeiten.

II. Interaktion im Real- und Datenraum

Im folgenden wird in einem Dreischritt vorgegangen:
1."`Participation´ Happenings" (Kaprow) werden in Netzwerken mit Datenfernübertragung fortgesetzt: So entstehen erste Kommunikationsmedien für Akteure an verschiedenen Orten (s.II.1.-II.2.).
2. Reaktive Systeme werden als ein eigener Strang - neben dem Strang vom Aktionstheater zur partizipativen Telekommunikation dargestellt. Die ersten umweltsensitiven Systeme sind von kinetischen Künstlern entwickelt worden (s. III.1.). Aus diesen sind reaktive Systeme mit Bild-Direktübertragung - Closed Circuits - hervorgegangen (s. III.2.). Computergestützte Bildverarbeitung verhilft zu neuen Möglichkeiten einer in Echtzeit reagierenden Bildsimulation (s. III.3.-III.4.).
3. Reaktive Installationen (s. 2.) und Netz-Werke mit Telekommunikation (s. 1.) werden in einem dritten Strang zusammengeführt: Werke kombinieren den Input durch Bewegungen der installationsinternen Beobachter mit installationsexternen Daten, die mittels Telekommunikation und Sensoren an anderen Orten oder in anderen Installationen gewonnen werden, und berechnen ihren Output aus beiden Inputs (s. IV.).

II.1. Kaprows "`participation´ Happening"

"18 Happenings in Six Parts" realisiert Kaprow 1959 in der New Yorker Reuben Gallery. Auf dem Programmzettel trennt er zwischen "participants" und "visitors". Die "participants" weist Kaprow vor der Aufführung ein, welche Aktionen sie in den von Paravents voneinander getrennten drei Aufführungsstationen simultan vorführen sollen. Das Publikum, das sich auf diese Stationen verteilt, wechselt von "part" zu "part" die Station. Die "instructions" des Programmzettels an die "visitors" beziehen sich auf den Stationenwechsel: Sie erhalten drei Karten mit Anweisungen für Sitzplätze und Sitzplatzwechsel von "part" zu "part". Aus Michael Kirbys detaillierter Aktionsbeschreibung geht hervor, daß von jeder Station auch Teile der Aktionen an anderen Stationen zu hören und - durch die Semitransparenz von Teilen der Paravents - auch zu sehen sind. Die "visitors"/"observers" befinden sich in jedem "part" in einer anderen Relation zum gesamten Aktionsgeschehen. Einen Beobachterstandort mit Totalüberblick gibt es nicht - auch für Kaprow als Ausführungsleiter nicht.

Allan Kaprow: 18 Happenings in Six Parts, Reuben Gallery, New York 1959

In den in Außenräumen realisierten Happenings "Household" (1964) und "Gas" (1966) werden alle "visitors" zu "participants". Es gibt nur noch Koakteure: "There is thus no separation of audience and play." Von der Aktion ausgeschlossene Beobachter sind abgeschafft. Kaprow realisiert in den "`participation´ Happening[s]", was er 1958 in dem Artikel "The Legacy of Jackson Pollock" im All-over auf großen Formaten bereits antizipiert sah. Er schrieb dort: "We are participants rather than observers".

In "Household" und "Gas" kann jeder Rezipient zwischen Beobachtungs- und Aktionsphasen hin und her switchen. Die in die Performance integrierte "observer"-"participant"-Relation problematisiert Kaprow 1968 im Gespräch mit Richard Kostelanetz. Den Anlaß dafür lieferte die Gegenwart eines Kameramannes der CBS im Happening "Gas": "I am trying to make the cameraman a functioning part." Aktionsleiter und Kameramann sind nach Kaprow "participants" von "Gas". Sie sehen das Geschehen auch als "observer" - wie jeder andere Beobachter - von je einem der möglichen aktionsinternen Standpunkte. Die Sonderstellungen von Aktionsleiter und Kameramann unter anderen "participants" wird relativiert durch die Unmöglichkeit, einen externen Blickpunkt mit totaler Übersicht einnehmen zu können: "So I tried to work into my thinking moments of rise and fall, of quietude and activity, where the same person, who is looking at one moment would then find it possible to act and then return to looking, rather than having it only one way." Der Beobachter als Teilnehmer wechselt also zwischen "Beobachtungsoperationen" und Kollaboration am Aktionsablauf bzw. Beobachteropationen.

II.2. Participation-Tele-Performance

Allan Kaprow verbindet 1969 in "Hello!" Kameras an verschiedenen Orten mit Monitoren in einem Studio. Künstler, darunter Nam June Paik, können live über die Monitore im Studio miteinander kommunizieren: eine Participation-Tele-Performance. Allerdings ist diese Performance einer über die wenigen "participants" hinaus reichenden Öffentlichkeit nur als Videoperformance (s/w, Ton, 5´17´´) präsentierbar: als in einem Ein-Weg-Kommunikationsmedium abgebildete vergangene Zwei-Weg-Kommunikation.

Allan Kaprow: Hello!, TV-Sendung "The Medieum is the Medium",
WGBH, Boston 1969

1970 mischt Stan Vanderbeek in "Violence Sonata" Live- und andere Aufnahmen zum Thema Gewalt im amerikanischen Alltag mit "multimedialen Projektionen und Publikumsreaktionen im Studio und aus dem Telefon" (Davis). Im Unterschied zu Kaprows "Hello!" kann jeder "observer" zum "participant" werden. Douglas Davis setzt 1971 mit "Electronic Hokkadim" und 1972 mit "Talk Out!" die TV-Zwei-Weg-Direktübertragung fort. Zuschauer können in "Talk Out!" die laufende, zum Teil auf Videobändern vorproduzierte Sendung kommentieren und vor die Kamera treten.

Stan Vanderbeek: Violence Sonata, 1970, TV-Sendung,
WGBH, Boston, Kanal 2 (oben) und Kanal 44

II.3. Textproduktion durch Kollaboration im Datennetz

Die Möglichkeiten der Datenfernübertragung regen Künstler in den achtziger Jahren an, Konzepte für kollektive Textproduktionen zu entwerfen und zu realisieren. Die technische Basis liefert die 1980 unter der Leitung von Robert Adrian X im I. P. Sharp Associates Network (IPSA) etablierte Mailbox ARTBOX, ab 1983 ARTEX ("The Artist´s Electronic Exchange Programme", bis 1990).

Für Roy Ascotts Projekt «La Plissure du Texte» (auf ARTEX) arbeiten 1983 mehrere Autoren in verschiedenen Ländern an einer interaktiven "planetary fairytale" (Ascott/Loeffler). Das Publikum der Ausstellung "Electra", die 1983 im Musée d´Art Moderne de la Ville de Paris gezeigt wird, kann auf Projektoren, die mit den Terminals der Autoren verbunden sind, die Textentstehung verfolgen. In "The Heart of the Machine" von Ian Ferrier und Fortner Andersen (von ACEN = Art Com Electronic Network, seit 1986 über WELL auf CompuServe und USENET zu empfangen) werden Autobiographien von Netzteilnehmern in die Fortsetzungen eines "experimentellen Romans" (Loeffler) eingearbeitet: "The story is shaped by the identity of its readers." (Couey) Die Netzteilnehmer können die Kapitel, zu deren Entstehung sie beigetragen haben, abrufen: Ein "continual work-in-progress" (Couey) als "on-line-environment" (Loeffler). «La Plissure du Texte» und "The Heart of the Machine" werden durch neue Informationen erweitert, nicht aber in ihrer Organisation rückwirkend restrukturiert.

Roy Ascott: La Plissure du Texte, ARTEX (The Artist´s Electronic Exchange Program), I.P. Sharp Associates Computer Timesharing Network, 1983

III. reaktive elektronische Installationen

Im folgenden wird - wie oben angekündigt - ein zweiter Strang von reaktiven Werken mit maschinellen Systemen vorgestellt. Er beginnt mit reaktiven kinetischen Systemen.

III.1. kinetische Skulpturen und Environments

Nicolas Schöffers spatiodynamische Skulpturen (ab 1949) projizieren und reflektieren farbiges Licht. Sie erweitern die Möglichkeiten maschinengesteuerter Lichtmodulation von Laszlo Moholy-Nagys "Lichtrequisit" (1922-30 in Kollaboration mit Istvan Sebök und Otto Ball). Ein vor dem Lütticher Palais des Congrès am Ufer der Meuse 1961 aufgebauter Turm von 52 m Höhe transformiert Luft-, Geräusch- und Lichtereignisse der Umwelt in Bewegung sowie in Licht- und Klangkompositionen, letztere organisiert von Henri Pousseur.

Nicolas Schöffer: Lichtspiel auf der Fassade das Palais de Congrès (links)
und Tour Spatiodynamique Cybernétique (rechts), Lüttich 1961

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entstehen die ersten "reaktiven" (Seawright) oder "responsiven Environments" (Burnham und Krueger) mit Sensoren - zum Beispiel Lichtschranken und druckempfindliche Platten -, die Licht- und Tonschaltungen aktivieren. James Seawright schrieb über seine reaktiven Geräte aus Anlaß einer Ein-Mann-Ausstellung der Stable Gallery (New York) 1966 in der "New York Times" (6.11.1966): "The machines process information. Their cells and sensors collect information on light and sound, and they behave accordingly. My aim is not to `program´ them but to produce a kind of patterned personality. Just as a person you know very well can surprise you, so can these machines. That´s the crux of what I want to happen." Seawright konstruiert "Watcher" (1965-66) aus Komponenten "für den Programmablauf" und "für die Steuerung des Verhaltens der Skulptur" (Seawright). Die Umrisse von "Watcher" lassen an zwei Figuren oder Häuser auf einer gemeinsamen Plattform denken. 1968 in "Electronic Peristyle" verzichtet Seawright auf die figurative Lesbarkeit von "Watcher". "Electronic Peristyle" ist les- und brauchbar als symmetrisch angelegter Treffpunkt. Die Elemente zur Erzeugung von "wechselnde[n] Licht-, Klang- und Luftmuster[n]" (Davis) werden in einen Kreis aus 10 Stelen und einen kugelförmigen Glaskörper in der Mitte integriert.

James Seawright: Watcher, 1965, Guggenheim Museum, New York

Hans Haacke reduziert in dem Environment "Photo-Electric Viewer-Programmed Coordinate System" die Mittel auf glatte Wände mit Perforationen für technisches Equipment, das hier aus Infrarotlichtstrahler und Glühbirnen besteht. Die Infrarotlichtstrahler bilden ein Raster, das Beobachter unterbrechen. Die Unterbrechungen aktivieren die Sensoren. Die Sensoren liefern die Daten zur Steuerung der Ein-/Ausschaltung der Glühbirnen, deren Lichtemission wiederum die Beobachter- (Gehen) und "Beobachtungsoperationen" (Sehen-Vorstellen) beeinflußen. Haacke schreibt im Katalog seiner Ausstellung in der New Yorker Howard Wise Gallery im Januar 1968: "A `sculpture´ that physically reacts to its environment is no longer to be regarded as an object. The range of outside factors affecting it, as well as its own radius of action, reach beyond the space it materially occupies. It thus merges with the environment in a relationship that is better understood as a `system´ of independent processes." Die Differenz zwischen James Seawrights reaktiven Skulpturen von 1965-66 und seinem computergestützt gesteuerten "Network III", 1971 im Walker Art Center in Minneapolis installiert, kann zur Illustration von Haackes Beschreibung des Gegensatzes zwischen einem Werkobjekt und einem Werk als "System von unabhängigen Prozessen" in einer Umgebung eingesetzt werden. Seawrights "Network III" besteht aus betretbaren Sensoren - Druckplatten - am Boden und Agenten - ein Raster aus Lichtern - an der Decke. Beobachteroperationen auf den Platten erzeugen Lichtmuster, die "Beobachtungsoperationen" (Sehen-Vorstellen) provozieren, welche weitere Beobachteroperationen (Gehen) provozieren können. "Network III" kann als Modifikation von Haackes "Photo-Electric Viewer Programmed Coordinate System" verstanden werden: Sensoren und Agenten, die Haacke in der Wand unterbringt, verteilt Seawright auf Boden und Decke.

Hans Haacke: Photo-Electric Viewer-Programmed Coordinate System, 1968, 14 Infrarot-Projektoren, 14 photoelektronische Zellen, 28 weiße Glühbirnen, Raum: 305 x 345 x 345 cm

III.2. Closed Circuits

Ende der fünfziger Jahre beginnen Künstler, Fernseher einzusetzen. Ende der sechziger Jahre werden die Sensoren sowie die Licht- und Klangagenten der oben vorgestellten reaktiven Environments (s. III.1.) durch Kameras, Videorecorder und Monitore ersetzt.

Wolf Vostell und Nam June Paik verlegen Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre bereits die Ebene des Einsatzes künstlerischer Strategien auf TV-Output-Manipulationen: Während Wolf Vostell (Projektskizze, 1958; "TV-dé-coll/age für Millionen", Fotos, 1959; "TV für Millionen", Fernsehgerät, 1959/67) noch die vorhandenen Schalter für Bildverfremdungen verwendet, stört Paik die elektromagnetischen Wellen in der Kathodenstrahlröhre mit den Magnetströmen eines Hufeisenmagneten ("Magnet-TV", 1963-65) und eines Degausser ("Participation TV", 1965) und verzerrt so das Monitorbild. Die Relation zwischen Hufeisenmagnet oder Degausser zum Monitor ist von Beobachtern veränderbar: ein reaktives System. Durch Videokamera und Recorder - dem "Portapak" von Sony - ist seit 1965 eine neue Technologie verfügbar, die Les Levine und Nam June Paik im selben Jahr anzuwenden beginnen.

Vor den ersten Anwendungen von Video in Closed Circuits experimentieren Alex Hay und Robert Rauschenberg in Performances mit TV-Kameras für Direktübertragungen. TV-Kameras, Projektionsgeräte und Projektionsflächen bilden in den Performances von Hay und Rauschenberg 1966 in der New Yorker Performance-Reihe "Nine Evenings: Theater and Engineering" zusammen mit anderen Elementen ein Environment. Aktion und Direktübertragung bestimmen die Performances von Hay und Rauschenberg in unterschiedlicher Weise: Während Hay in "Grass Field" zwischen Kamera und Projektor sitzt, ist sein Gesicht auf einer großen Leinwand dahinter zu sehen und Rauschenberg läßt in "Open Score" 500 Akteure im Dunkel verschwinden, um sie über Infrarotaufnahmen auf Projektionswänden erscheinen zu lassen, die über der Aktionsfläche hängen.

Alex Hay: Grass Field, 9 Evenings: Theatre and Engineering, The 69th Regiment Armory, New York 1966 (Film: Alfons Schilling, 16 mm)

Closed Circuit-Installationen haben Les Levine ("Iris", 1968) und Nam June Paik ("TV-Chair") ab 1968 sowie Bruce Nauman ("Come Piece", 1969; "Corridor Installation", auch gen. "Live/Taped Video Corridor", 1969) und Ira Schneider mit Frank Gillette ("Wipe Cycle", 1969) ab 1969 konstruiert. In diesen Closed Circuit-Installationen ersetzen Video-Kameras die TV-Kameras der "Nine Evenings"-Performances von Hay und Rauschenberg [Korrektur November 2013: In den "Nine Evenings" wurden bereits Videokameras verwendet. Sie wurden damals noch als TV-Kameras bezeichnet.]. Außerdem lösen Videorecorder und Monitore die Projektionsgeräte und -wände der genannten Performances ab. Die Performances der "Nine Evenings" integrieren "participants" für reaktive Systeme, während die Besucher "observers" bleiben. In Video-Closed-Circuits wird der "observer" zum "participant". Der Beobachter sieht sich selbst im Monitor beim Beobachten und Handeln: Er beobachtet seine Beobachteroperationen.

Nam June Paik: TV Chair, 1968/1975 (Paik auf TV Chair, Köln 1976. Foto: Friedrich Rosenstiel)

Levines "Iris" (1968; vgl. "Contact", 1969), Gillette/Schneiders "Wipe Cycle" (1969) und Paiks "Participation TV II" (1969-71) sind Multi-Monitor-Installationen mit Closed Circuits. Gillette und Schneider kombinieren in "Wipe Cycle" Monitore, die reaktive Bildquellen in Echtzeit und in Zeitverzögerung präsentieren, mit Monitoren, die von nicht-reaktiven Bildquellen (Video-Aufzeichnungen von Fernsehsendungen) gespeist werden. Paik integriert in "Participation TV II" zusätzlich zum Video-Closed-Circuit einen Videosynthesizer, der über ein Manual von Beobachtern bedient werden kann und mit Bildtransformationen reagiert. Durch den 1970 von Shuya Abe und Paik entwickelten Videosynthesizer wird die Manipulation der elektromagnetischen Wellen in TV-Röhren systematisch steuerbar.

Frank Gillette/Ira Schneider: Wipe Cycle, Installation mit 9 Monitoren und einer Live-Kamera, Howard Wise Gallery, New York 1969

Der "observer" ist in "Participation TV II" auch "participant" als Spieler am Schaltpult. Wenn der Beobachter von der Rolle des Spielers im System in die Position des Forschers auf der Suche nach Systemmöglichkeiten switchen will, kann er die Reaktionsmöglichkeiten des technischen Systems erkunden. Die mentalen Pläne, die sich die Beobachter zulegen, um die Input/Output-Relationen zu erfassen, müssen mit dem realen Schaltplan nicht übereinstimmen. Der Beobachter rekonstruiert die Oberflächenrelationen zwischen seinen Operationen und den wahrnehmbaren Antworten des Systems. Die Bestandteile des realen elektronischen Systems von reaktiven Installationen können Black Boxes (mit bekannter Funktion, aber unbekannter Funktionsweise) bleiben. Die Funktionsweisen aller elektronischen Bausteine zu kennen ist nicht Voraussetzung, um die Systemmöglichkeiten auszuloten.

Nam June Paik: Participation TV II, 1969/71, Galerie Bonino, New York 1971 (Foto: Peter Moore)

Der Künstler hat die einzelnen Komponenten eines Schaltplanes Ready-Made aus industrieller Fertigung übernommen. Nicht die vor dem Werkkonzept schon vorhandene, wegen ihrer Funktionsfähigkeit gewählte Elektronik ist werkkonstitutiv, sondern die beobachterzentrierte Sensor-Agent-Verbindung: Der Künstler kreiiert nicht, sondern kombiniert im Hinblick auf die Möglichkeiten der Konzeptualisierung von Beobachtung in begehbaren Modellen. Durch Kombination von elektronischen Komponenten werden Schaltpläne realisiert, die technische Funktionen ermöglichen, welche Modellfälle zur Problematisierung von Weltbeobachtung (s. I.) liefern. Der künstlerische Aspekt liegt in den beobachterzentrierten Konzepten, während ihre Realisation sich beliebig oft aus Bausteinen der Massenfertigung wiederholen läßt. Doch im Unterschied zu "Event Cards" von Fluxus-Künstlern wie George Brecht und zur "Conceptual Art" von Sol LeWitt oder Lawrence Weiner kann das Lesen von Konzepten nicht die Beobachter- und "Beobachtungsoperationen" in einer der Realisationen ersetzen. Die Beobachter sind in das künstlerische Modell als Handelnde integriert. Die Closed-Circuit-Installationen sind zweiseitige Beobachtermodelle: Die auf dem Monitor präsentierte Kamera-Beobachtung ist für "observer"-"participants" konzipiert, die vor der Kamera operieren. Die Beobachter vor der Kamera orientieren ihre Operationen wiederum an den Monitorreaktionen. Die Kamera beobachtet den Beobachter, der am Monitor beobachtet, was die Kamera beobachtet.

III.4. computergestützte Bildverarbeitung in reaktiven Systemen

Closed-Circuit-Video-Installationen wie Peter Weibels "Imaginärer Tetraeder" (1979) können den Beobachter provozieren, das Verhältnis zwischen seiner Selbstverortung im Realraum und dem Ort seines Abbildes im Bildraum zu reflektieren. Der Bildraum wird von zwei Kamera-Inputs gebildet, die über einen Mischer zusammengeschaltet werden. Das Bild von Bodenlinien, auf denen der Beobachter steht, und die Kamerareproduktion auf einer Zeichnung ergeben einen "imaginären Tetraeder" zwischen, vor und hinter dessen Linien sich der Beobachter wiederfindet. Die Installation schafft eine Situation, die es dem Beobachter erschwert, die beiden Kamera-Inputs im Bildraum auseinander zu dividieren, und orientiert die "Beobachtungsoperationen" auf Probleme des Umgangs mit dieser Komplikation. Zum Leitthema der Installation wird die Rückkoppelung der Beobachteroperationen an "Beobachtungsoperationen".

In Installationen mit computergestützter Bildverarbeitung für Echtzeit-Reaktionen kann die Konfrontation des Beobachters mit sich selbst und anderen Beobachtern in Bildprojektionen sowohl fortgesetzt (Myron Krueger-Videoplace, 1974-1990), als auch transformiert werden in eine Generierung von Bildraumsimulationen, in denen zwar Beobachter als sich durch den Bildraum Bewegende, nicht aber ihre Abbilder vorkommen (s. III.4.1.). Der Beobachter ist Teil von reaktiven Bildsimulationen erstens durch die Möglichkeiten der Steuerung im Bildraum, die das Programm für Beobachteroperationen enthält, und zweitens durch die Art, wie die programmierten Bildraumtransformationen auf "Beobachtungsoperationen" (auf filmisches Sehen-Lesen) zugeschnitten sind. Das Programm einer oder mehrerer Bildwelten ist nicht nur für Beobachter- und "Beobachtungsoperationen" angelegt, sondern der Beobachter ist auch als Modell-Beobachter einprogrammiert in die Möglichkeiten der Bildwelten, Beobachteroperationen wahrzunehmen und ohne bemerkbare Zeitverzögerung in Reaktionen bzw. Agentenoperationen zu übersetzen. Beobachterzentrierte reaktive Programme enthalten einen Modell-Beobachter, der aus den Möglichkeiten besteht, auf Operationen des empirischen Beobachters zu reagieren (vgl. Eco). Überspitzt formuliert: Indem der Beobachter die Reaktionsmöglichkeiten eines computergestützten "responsiven Environments" erforscht, erkundet er die Vorwegnahme seiner Operationen im programmierten Modell-Beobachter.

Myron Krueger: Videoplace, 1974-1990, Closed-Cicuit-Installation mit Kamera, Computer und Beamer

III.4.1. Vier-Welten-Kubus

III.4.1.1. Installation

"Vier-Welten-Kubus/Zur Rechtfertigung der hypothetischen Natur der Kunst und der Nicht-Identität der Objektwelt" entstand am Institut für Neue Medien in der Frankfurter Städelschule unter der Leitung von Peter Weibel. Die Installation vereinigt vier Bildwelten, die von MitarbeiterInnen des Instituts konzipiert und programmiert wurden. In die 1992 in der Kölner Galerie Tanja Grunert präsentierte Installation gelangt der Beobachter über einen dunklen Gang in einen Raum, den eine reaktive, computergesteuerte Bildprojektion erhellt, sobald Bodensensoren aktiviert werden. In eine 5 x 5 Meter große Bodenfläche sind Kontaktmatten eingelassen. Der eintretende Beobachter hat die Projektion bereits aktiviert, bevor er den Zusammenhang zwischen 32 Sensoren und Bildprogrammen erkennen kann. Eine Textwelt aus Buchstaben (Constanze Ruhm/Bob O´Kane), eine Architektur- bzw. Raumwelt (Dieter Beck/Christian Möller), eine Objektwelt (Akke Wagenaar) und eine Gaswelt (Gideon May/Laurent Mignonneau) kann der Beobachter über vier farbige Bodensensoren wählen. Der Beobachter betätigt beim Betreten des Installationsraumes die dem Eingang nächsten vier Sensoren, über die eine der vier Programme/Welten aufgerufen wird. Bis er weitere Sensoren betätigt, sieht er das Anfangsbild. 25 graue Sensoren koordinieren Skalierung, Proportion und Rotation. Weitere drei graue Sensoren steuern Twirl-, Twist- und Wavefunktionen.

Peter Weibel u.a.: Zur Rechtfertigung der hypothetischen Natur der Kunst
und der Nicht-Identität der Objektwelt, 1992

Sensorenaktivierung und Beobachterstandpunkt sind gekoppelt: Der Beobachter kann nicht gleichzeitig eine große Entfernung zur Wand einnehmen und Sensoren nahe der Leinwand betätigen wollen. Der Beobachter im Realraum kann die Programme durch Aktivierung der Sensoren bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, muß aber virtuellen Welten wie der Gaswelt ihr Eigenleben lassen. Weibel bezeichnet die selbst organisierte "Variabilität" virtueller Welten als "Viabilität".

III.4.1.2. Schnittstelle im Duo-Pluriversum

Die Selbstverortung des Beobachters im Sensorenraum und in je einer der Bildwelten, in Raumbild und Bildraum, verlaufen in der reaktiven Installation "Zur Rechtfertigung der hypothetischen Natur der Kunst und der Nicht-Identität der Objektwelt" einerseits parallel und überschneiden sich andererseits: Es sind zwei autonome Welten mit Übergängen. Der Begriff `Raumbild´ wird hier als Bezeichnung für die Konstruktion einer Vorstellung von Realräumen verwendet. Dieses Raumbild ist ein Konzept, das dem Beobachter Selbstverortung und Handlungskoordination im Realraum ermöglicht. Weibel konstituiert Kunstbeobachtung durch eine Relationierung von Raumbildern mit Bildräumen in einer Modellsituation, aus der Beobachter Konsequenzen für Weltbeobachtung ziehen können. Aus den Modifikationen der Weltbeobachtung, die sich in der Modellsituation ergeben, können wiederum Schlüsse für Kunstbeobachtung gezogen werden, z.B. über die Relationen zwischen der Beobachtung von Bildern oder Skulpturen losgelöst vom Umraum und der Beobachtung der Kunstwerke als Objekte im Umraum (auf dem Boden oder an den Wänden).

Der Begriff "Schnittstelle" wird hier für die Komponenten eingesetzt, die Beobachtern eine Dateneingabe ermöglichen: Im Falle des "Vier-Welten-Kubus" ist dies das Feld aus Bodensensoren mit Verbindungen zum Rechner. An der Schnittstelle wechselt der Beobachter die Relation Innen-Außen für Bewegungen im Real- und Bildraum: Der Beobachter wird zuerst an die Schnittstelle vom mentalen Standpunkt der Selbstorientierung in der realen Welt (Raumbild) anschließen, um in eine virtuelle Welt (Bildraum) zu gelangen und Bildbewegungen zu provozieren. Wenn der Beobachter sich im Realraum bewegt und die Echtzeit-Reaktion der Bildsimulation dem Zufall überläßt, dann leitet er seine Operationen mittels "Handlungsplänen" (Piaget: «schème»), die ihm zur Orientierung im Realraum dienen. Während der Orientierung im Realraum ist die Bildprojektion peripher - sie ist nur als einzige Lichtquelle des Environments relevant.
Betätigt der Beobachter die Sensoren, um sich in den Bildprogrammen auf bestimmte Weise zurecht zu finden, dann ist für ihn die Datenseite der Sensoren-Schnittstelle entscheidend. In diesem Fall wird er die Gebundenheit des Inputs über Bodensensoren an Distanzen im Realraum, die seine Entfernung zur Projektion bestimmen, als Anschluß von Elementen des Realraums an die digitalisierte Bildraumsteuerung reflektieren. Der Beobachter lokalisiert sich auf der Bildraumseite und konzeptualisiert den Realraum in Bildraumfunktionen: Die Selbstverortung im Bildraum wird mental auf der Innenseite der Schnittstelle lokalisiert und die dazu notwendige Handlungskoordination im Realraum als Außenseite. Von der mentalen Selbstverortung in der realen, euklidisch konzeptualisierbaren Welt mit klassischer Raum-Zeit-Kombination - eine räumliche Distanz zwischen Sensoren zurückzulegen benötigt ein bestimmtes Maß an Zeit - kann in die reversiblen "geschichteten Faltungen von Raum und Zeit" (Weibel) einer virtuellen Welt umgestiegen werden - und umgekehrt: Ein Switch der Selbstverortung in Bild- oder Realraum, zwischen Innen/Außen und Außen/Innen, findet an der "Endo-/Exo-Schnittstelle" (Rössler, Weibel) statt.

Die von einem im Realraum installierten Interface steuerbaren Verzweigungen in alternative Bildwelten und Programmfunktionen innerhalb jeder Bildwelt versetzen den Beobachter in ein Duo-Pluriversum:
- Auf "stereoskopische" (Virilio) Weise bewegt sich der Rezipient zwischen der realen Welt und je einem der virtuellen Bildräume. Die Zwei-Welten-Koordination an der Schnittstelle bildet eine Duoversum.
- Die Bildraum-Seite des Duoversums Raumbild-Bildraum konstituiert ein Pluriversum alternativer virtueller Welten.


IV. Installationen mit Schnittstellen zu Datennetzen

Rechner können Daten von Installationen mit Sensoren erhalten, die Beobachteroperationen registrieren. die Rechner können die installationsinternen Daten über Telekommunikation mit installationsexternen Daten kombinieren, verarbeiten und Präsentationsmedien in der Installation zuführen. Solche reaktiven Installationen mit Datenfernübertragung kombinieren die beiden Stränge 1. der künstlerischen Experimenten mit partizipativer Telekommunikation (s. I.) und 2. der reaktiven elektronischen Installationen (s. II. und III.).


IV.1. Urbane Netze

1968 plant Ted Kraynik Bojen mit Stelen, an denen Lichter befestigt sind, im Bostoner Hafen zu installieren ("Synergic Light Buoys"). Die Lichter sollen auf die Menge der Telefongespräche, den Straßen- und Metro-Verkehr sowie auf Gas- und Elektrizitätsverbrauch reagieren. Der Architekt Toyo Ito konzipiert in den achtziger Jahren eine an urbane Netze anschließende Installation in der Stadt Yokohama. Die Installation besteht aus "Netzwerken" für "Samplers" (Input-Daten-"Sammler" mit Sensoren), "Performance Devices" ("Darstellungsmedien"), "Interface Devices" zur Interaktion zwischen Samplers sowie zwischen "Samplers" und "Performance Devices", Computerverbindungen von Hafennetzwerken mit anderen Netzwerken ("Computer Network") und "Key Stations" ("Kontrollstationen"). Netzwerke von Itos multimedialem und multilokalem reaktivem System schließen an vorhandene Netzwerke an. Samplers, Präsentationsmedien und Kontrollstationen der urbanen Netzwerke wie der Netzwerk-Performance sind an verschiedenen Orten in einer Stadt eingerichtet: In Yokohama kreuzt Ito die vorhandenen urbanen Netze mit neu installierter Technologie. Ito installiert ein `Netzknotennetzwerk´. Als Netzknotennnetzwerk wird hier die Vernetzung der Knoten, an denen vorhandene und neu installierte Netzwerke miteinander kombiniert werden, bezeichnet.

IV.2. Zentralisierung und Dezentralisierung

Die Mitglieder der Gruppe kr+cf-Knowbotic Research realisierten 1993 einen "Simulationsraum" als "Mosaik mobiler Datenklänge", kurz "SMDK". Ein Beobachter im "realen Aktionsraum" (Knowbotic Research) erhält eine Datenbrille, mit der er in visuellen und audiellen Simulationsräumen wandert. Reale und simulierte Räume überlagern sich. Das System verarbeitet Soundfiles, die von außen über Mailbox aufgenommen werden, und Daten, die sich aus den Beobachteroperationen im Realraum ergeben. Durch die Überlagerung zweier Dateneingänge und verschiedener Verarbeitungsebenen erhält das System ein Eigenleben, das es dem Beobachter erschwert, Reaktionen auf seine Aktionen zu erkennen.

Die "Projektgruppe Netzstadt" (TH Darmstadt, Fachgruppe Stadt) verbindet 1994 zwei reaktive Installationen über ein Netzwerk miteinander. An zwei Orten können Beobachter über Bodensensoren die Bilder je einer Projektionswand steuern. Beobachteroperationen führen entweder zu einem "Fließgleichgewicht", wobei sich Sicht- und Sprechkontakte mit Beobachtern der anderen Installation ergeben, oder initiieren die Rechner, "je nach Höhe der Abweichung die Verfremdung und Anzahl der Bilder, die Geschwindigkeit der Bildwechsel und die akustischen Signale" (Projektgruppe Netzstadt) zu steuern. Beobachter gelangen durch aufeinander abgestimmte Operationen zur Schnittstelle, über die visuelle und auditive Interaktion zwischen beiden Orten möglich wird. Nähe und Ferne zwischen beiden Installationsorten hängen für Beobachter nicht von der realen Distanz zwischen ihnen, sondern von wechselseitigen Beobachteroperationen ab: "Auch Stadt und Welt funktionieren nur störungsfrei, solange ein Fließgleichgewicht besteht." (Projektgruppe Netzstadt) Die reaktive Installation setzt mit der Programmierung auf "Fließgleichgewicht" der Interaktion zwischen Beobachtern sowohl einen Kommunikationsrahmen wie einen Denkrahmen für Weltbeobachtung. Die konkreten Interaktionsumstände werden zum Modell für Weltbeobachtung. Die Anschlüße von externen an installationsinterne Datennetze des "Simulationsraums" von Knowbotic Research werden in "Fließgleichgewicht" in eine Brechung zwischen zwei installationsinternen, aber dank Datenfernübertragung beliebig weit voneinander entfernten Schnittstellen transformiert.

Projektgruppe Netzstadt: Fließgleichgewicht, 1994


Ed Bennett und Eduardo Kac realisieren am 23. Oktober 1994 "Ornitorrinco in Eden". Beobachter können von Schnittstellen in Galerien in Seattle und Lexington über Internet simultan durch das "Auge" eines mobilen und drahtlosen Teleroboters in Chicago sehen und ihn gemeinsam durch ein Environment steuern: "vernetzte Zusammenarbeit" ("collaboration through networks"(Kac)) via Konferenz-Schaltung zwischen drei Orten. Durch eine Vernetzung von Beobachtern an verschiedenen Orten mit Robotern an einem anderen Ort kehrt sich das Verhältnis Beobachter-Agent von "SMDK" um: Während dort dezentrale virtuelle Räume von einem zentralen Realraum aus beobacht- und beeinflußbar werden, steuern in Telepräsenzinstallationen wie "Ornitorrinco in Eden" dezentral lokalisierte Beobachter durch ein zentrales Environment.

Eduardo Kac: Ornitorrinco in Eden, 1994

V. lernfähige Netz-Werke

Auf der "Ars Electronica `95" in Linz stellt Luc Steels ein lernfähiges Apparatesystem in einem Vortrag unter dem Titel " The Selfish Robot and the Origins of Intelligence" vor, das im Artificial Intelligence-Labor der Universität Brüssel entwickelt wurde. Dieses "physische robotische Ökosystem" enthält mobile Einheiten, die durch "evolutionäre Techniken" in der Lage sind, "ein primitives Repertoire von Grundverhaltensmuster zu entwickeln." Die Roboter bestehen aus Lego-Steinen, einem Hochleistungsmikroprozessor, Sensoren und Motoren. Die Roboter steuern die Ladestation selbständig an. "Parasiten in der Form von Lampen" ziehen "dem...Ökosystem ebenfalls Energie ab." Roboter und "Parasiten" spielen "`das Spiel des Lebens´" um die knappe Energie des "Ökosystems". Die Roboter paralysieren die "Parasiten" zeitweilig, wenn sie gegen die "Kisten" (Steels) mit Lampen stoßen.

Das lernfähige System in Brüssel ist als Experiment konzipiert, dessen Apparate und Systemebenen aufeinander reagieren. Steels plante, Beobachter in Linz über Datenfernübertragung an Roboter des Experimentes in Brüssel anzuschliessen. Für den Beobachter erfahrbar und von ihm steuerbar wird in Telepräsenzinstallationen wie dem "Ornitorrinco-Projekt" (ab 1989) von Bennett und Kac und Steels´ "The Selfish Robot" der jeweilige Apparatzustand eines "Roboters". Der extern von einem anderen Realraum zugeschaltete Beobachter schließt an das Netzwerk der Installation an und erhält die Chance, dessen Realraum-Komponenten zu beeinflußen. Der Beobachter switcht - bildhaft geprochen - über zwei `Datenfenster´ zwischen zwei Realräumen: Das erste `Datenfenster´ bildet der Zugang zur Datenfernübertragung und das zweite `Datenfenster´ der `Blick´ auf ein Environment, den umweltsensitive mobile Elemente ermöglichen.


VI. Resümee

VI.1. Multilokale Zwei-Weg-Kommunikation

Zwischenmenschliche partizipatorische Kunstformen des Aktionstheaters der sechziger Jahre sind in den siebziger Jahren zu ersten Formen interaktiver Telekommunikation weiter entwickelt worden (II.2.). Waren diese Formen des Gebrauchs von interaktiver Telekommunikation nicht nur im Kunstkontext, sondern auch als TV-Anwendungen neu, so werden sie heute durch TV-Shows mit Zuschauerrückkoppelungen (Life-TV, Telefon) kolportiert: Der Zuschauer wird nicht zum "participant", sondern demonstriert als Mitspieler noch die Macht der Massenmedien, die Zwei-Weg-Kommunikation (Interaktion) ihrer Ein-Weg-Kommunikation vom Sender zum Empfänger subordinieren. In den Anfängen interaktiver Telekommunikation versuchten Künstler, neue Möglichkeiten der Zwei-Weg-Kommunikation zu etablieren (II.2., II.3.). In den neunziger Jahren sind Angebote von Kunstadressen in Datennetzen (und reaktive CD-ROMs) nur kunstspezifische Besonderungen von sich schnell durchsetzenden Kommunikationsmedien. Die Situation des Beobachters gegenüber lernfähigen Elementen mit Zugängen über Datenfernübertragung ist dagegen heute noch so neu, daß genauere Trennungen zwischen Kunst und Forschung noch nicht entscheidend sind: Beide sind daran interessiert, neue Medien in neuen Modellen für Weltbeobachtung zu erproben. An eine Medienkunst-Geschichte, die verfolgt, wie Künstler reaktive Systeme parallel zu technischen Innovationen weiter entwickeln, sind aktuell realisierte Systeme anzuschließen, die Möglichkeiten der Aktion mit lernfähigen, sich (teilweise) selbst organisierenden Maschinen enthalten.
Alternative Kunst der sechziger und der siebziger Jahre setzte lokale Zwei-Weg-Kommunikation gegen die Ein-Weg-Kommunikation der multilokalen Massenmedien. In den neunziger Jahren werden Multilokalität und Zwei-Weg-Kommunikation (bzw. Polykontexturalität und Interaktivität) zu primären Kriterien des Mediendiskurses und der Medienkunst. Hinzu kommen die Brechungen der Vorstellungen von Intelligenz, zu denen Beobachter sich durch Mensch/Maschine-Schnittstellen provozieren lassen können. Die lernfähige Maschine wird zum "viablen" Gegenspieler, der dazu provoziert, mit variablen Modellen von Intelligenz zu arbeiten.


VI.2. "System-zu-System-Beziehungen"

Fragen des Gebrauchs der Prädikate "menschlich" und "maschinell" sind durch Fragen an die Komplexität der Selbstorganisation von Systemen ersetzbar. Maschinen und Menschen treten in "System-zu-System-Beziehungen" (Luhmann) zueinander. Die komplexe Lernfähigkeit menschlicher Intelligenz/Rechner und das Problem, ob digitale Datenverarbeitung mit menschlichem Denken je konkurrieren kann, liefern keine Argumente gegen "System-zu-System-Beziehungen" zwischen Maschine und Mensch: Ein auf maschineller Datenverarbeitung aufgebautes System muß, wenn es mit ausschließlich auf menschlicher Intelligenz basierenden Systemen in Beziehung tritt, nicht von vergleichbarer Komplexität sein. Reaktive computergestützte Installationen können hinreichend komplexe Gegenspieler für menschliche "Beobachtungsoperationen" sein, ohne mit menschlicher Intelligenz an Verarbeitungsfähigkeit konkurrieren zu müssen. Reaktive Systeme sind so konzipierbar, daß sie Akteure zu einem Wechselspiel zwischen "Beobachtungs-" und Beobachteroperationen provozieren. Dieses Wechselspiel kann als Modell und Anleitung zu ähnlichen Wahrnehmungsprozessen der Refokussierung im Alltag verstanden werden. Beobachtungskonzepte arbeiten mit Reduktionen von Komplexität durch Abstraktion. Künstlerische Installationen können unterkomplexe Beobachtersituationen offerieren, die gerade durch ihre Unterkomplexität als Erfahrungsmodell mit impliziter Anleitung zur Restrukturierung von Welt-(und Kunst-)Beobachtung taugen.

VI.3. `Spielregelspieler´

Reaktive Systeme können `Spielregelspieler´ zulassen, die nicht nur im, sondern auch mit dem System spielen. `Spielregelspieler´ ergeben sich bei Modellen, die dem Beobachter (begrenzte) Eingriffe in ihre Systemstruktur erlauben. Die Möglichkeiten der Netz-Werk-Architektur, die in IV.2. und V. dargestellt wurden, lassen sich, wenn die Konzeption der `Spielregelspieler´ hinzugefügt wird, in folgendem Idealmodell zusammenfassen:
a. Verarbeitung von über Sensoren gewonnene Daten von Außenwelten in sich selbst bewegenden und lenkenden, eigene Beobachteroperationen ausführenden Robotern.
b. Verarbeitung der Roboter-Datenverarbeitung in einem zentralen Rechner. Teilweise werden die verarbeiteten Daten an die Roboter weitergegeben und entlasten somit deren kleinere, ihre Mobilität möglichst wenig einschränkende Rechner. Auch werden diese vom zentralen Rechner verarbeiteten Daten über Datenfernübertragung an Medien (s. c.) weitergeleitet, die die Schnittstelle für Beobachter/User bilden.
c. Die Schnittstelle für User zum zentralen Rechner wird von Präsentations- und Dateneingabe-Medien gebildet. Zwischen Dateneingabemedien und Rechner verbindet Telekommunikation.
d. Die Schnittstelle für User (c.) ist selbst als reaktives, mit dem zentralen Rechner gekoppeltes Environment gestaltet. Die Beobachteroperationen an der Schnittstelle zum Rechner werden von Sensoren (statisch oder auf Robotern) registriert und ebenfalls dem zentralen Rechner zugeführt. Entweder werden diese aus der Beobachtung des Beobachters gewonnenen Daten eigenen Präsentationsmedien zugeführt oder sie beeinflußen die Präsentationsmedien im User-Environment, die vermittelt über den zentralen Rechner die Beobachtungen der Roboter in der Außenwelt (a.) umsetzen.

Ein Beobachter kann Zugang zu der Programmarchitektur im zentralen Rechner erhalten. Er kann als `Spielregelspieler´ diese Architektur wie die Organisation der Komponenten des Netz-Werkes de- und anders rekonstruieren. Er kann auch über den zentralen Rechner die Roboterprogramme und damit deren Generierung von Beobachter- aus "Beobachtungs"-Rechenoperationen verändern. Der Beobachter/User kann sich damit begnügen, den Dateninput der Roboter zu manipulieren. Der User steuert auf diese Weise wie durch Programmodifikation die Beobachteroperationen des Roboters. Bei Programmodifikation verändert er die Roboter-Beobachteroperationen über Modifikationen der Beobachtungs-Rechenoperationen.
Vom Beobachter manipulierbar sind:
- die von Robotersensoren registrierten Daten,
- die von Sensoren im User-Environment registrierten Daten,
- die Verarbeitung der Robotersensoren registrierten Daten,
- die Verarbeitung der Daten aus Sensoren im User-Environment,
- das Roboterprogramm und zwar das Programm des zentralen Rechners wie die über es koordinierte Netzarchitektur (Ent- und Neukoppelung der Input/Rechner/Output-Vorgänge).

Daten, die den Systemaufbau nicht modifizieren, sondern gefährden, können als nicht kompatibel mit dem derzeitigen Rechnerzustand vom zentralen Computer abgelehnt werden. Das System kann Eingaben ablehnen, die bei seinem gegenwärtigen Zustand seine Transformations-/Rechnerfähigkeit überfordern.

Ausdifferenzieren läßt sich die hier als Modell vorgestellte Netz-Werk-Architektur durch User-Dialoge. Bennett/Kac haben in "Ornitorrinco in Eden" ein Modell einer Lenkung der Beobachteroperationen eines Roboters über mehrere User realisiert. Außerdem wären mehrere Roboter in einem Feld möglich, von denen jeder von anderen Usern gelenkt wird. "Beobachtungsoperationen" von Robotern, das Beobachterverhalten ihrer Sensoren und Beobachteroperationen des Users an einer Schnittstelle andernorts können sich im Rechner ergänzen und Präsentationsmedien steuern. User können vom Rechner bei Dateneingaben, die Roboter gegeneinander führen, korrigiert werden - und umgekehrt können User Roboter korrigieren. Ein komplex vernetztes und ausdifferenziert geschichtetes digitales `Informationssystem´ kann Zwei-Weg-Kommunikation zwischen Usern auf mehreren Ebenen eröffnen. Interaktionen zwischen Usern (und Interaktionen zwischen Netzkomponenten und Usern) sind auf verschiedenen Ebenen möglich: neben der Manipulation von Sensoren-Input und ihrer Verarbeitung auf Roboter-Ebene auch auf den Ebenen der Manipulation des Datenflusses zwischen Roboter und Zentralrechner, zwischen Zentralrechner und der Schnittstelle für User sowie zwischen dem Programm zur Datenverarbeitung im Zentralrechner und der Koppelung der Komponenten zur Netzwerkarchitektur.

Es gibt in dem hier vorgeschlagenen Modell einer Netzwerkarchitektur Beobachteroperationen von Seiten der maschinellen wie der menschlichen Intelligenz: das Beobachterverhalten der Roboter mit Sensoren auf Datensuche, des Users an der Rechnerschnittstelle und mobiler Sensoren des reaktiven Environments, das Operationen des Users an der Schnittstelle beobachtet. Beobachteroperationen von menschlichen und maschinellen Rechnern an verschiedenen Stellen in der Netzwerkarchitektur werden an "Beobachtungsoperationen" rückgekoppelt: An die Rechnerstruktur und an das Gedächtnis des Users. Entscheidend ist, daß beide, maschinelle und menschliche Systeme, sich in dem hier vorgeschlagenen Modell einer Netzwerkarchitektur gegenseitig beobachten können. Das "Konzept des Beobachter beobachtenden Beobachters" (Luhmann) erlaubt es, auf die klassische Trennung zwischen Subjekt (mit Intentionen) und Objekt zugunsten systemtheoretischer Überlegungen verzichten (s.I.).

 

Bildquellen (2009):

Die Quellen sind als Links den Bildern unterlegt. Ein Klick auf ein Bild öffnet die Webseite mit der Quelldatei.

 

(publiziert in: Zacharias, Wolfgang (Hg.): Interaktiv. Im Labyrinth der Wirklichkeiten..., Essen 1996, S.407-429. Der Text enthält einige Abschnitte aus dem Artikel "Vernetzungskünst(l)er" und schließt in Fragen des Einsatzes von Robotern Anregungen der "Ars Electronica 95" ein.)

Literatur