Zum Anfang    Performance Art Uebersicht     Literatur


Thomas Dreher

 

Raphael Montañez Ortiz:

Destruktionskunst
für und in selbstinstituierender Gesellschaft


Malerei-Film-Happening

Das Frühwerk von Raphael Montañez Ortiz (*1934 in Brooklyn/NYC) stellt kanonisierte Entwicklunsgslinien der amerikanischen Kunst der fünfziger und sechziger Jahre infrage. Die etablierte Entwicklungsgeschichte läßt sich so rekapitulieren: Von abstrakten Expressionisten werden in den vierziger und fünfziger Jahren die avantgardistischen Präsentationsformen, die vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurden, auf eine `informelle´ Variante der abstrakten Malerei reduziert. Die auf abstrakte Malerei verkürzte Diskussion über `moderne Kunst´ wird polarisiert zwischen abstraktem Expressionismus und geometrischem Bildvokabular der Mondrian-Nachfolger. Nicht-repräsentative abstrakte Malerei wiederum wird als avantgardistischer Gegenpol zu realistisch-figurativer Malerei vorgestellt. Mitte bis Ende der fünfziger Jahre beginnen Künstler, gegen die (Selbst-)Limitierung der Neo-Avantgarde auf abstrakte Malerei parallel zu Tendenzen zur Refiguration auch an Präsentationsformen der Vorkriegs-Avantgarde anzuschließen, die den Kunstgattungen Skulptur und Malerei nicht zugeordnet werden können. Objektkunst wird zur Assemblage und zum Environment und damit immer raumgreifender weiter entwickelt.

Allan Kaprow führt in seiner künstlerischen Entwicklung von 1956 bis 1962 exemplarisch den Weg vom begrenzten Objekt im Kunstkontext zur kunstexternen Aktion vor: Er wandelt seine Präsentationsformen 1956-59 von der Collage gemalter Partien über Assemblagen, die wie Paravents im Raum stehen, zu Environments und Happenings in Innenräumen und ab 1962 in Außenräumen. Im Übergang vom Environment zum Happening werden die künstlerischen Arbeitsmöglichkeiten über die Expansion der Raumdimension hinaus auch in die Zeitdimension erweitert. Da in den Oeuvres von Robert Rauschenberg, Claes Oldenburg und Jim Dine die künstlerischen Arbeitsfelder bis Mitte der sechziger Jahre in ähnlicher Weise wie von Kaprow weiter entwickelt werden, lassen sich in Pop Art Malerei, Objekt- und Aktionskunst als Kontinuum von Arbeitsmöglichkeiten in einer wiedergewonnenen künstlerischen Medienvielfalt begreifen, die bald um neue Technologien - Film und Video - erweitert wird.

Ortiz´ künstlerische Entwicklung von der Filmmontage über Objektkunst zur Aktion weicht von der von Kaprow vorgezeichneten Entwicklungslinie ab: Zunächst deformiert Ortiz das Bewegungen darstellende Medium Film durch Schnitte im Trägermaterial. Dann exponiert er Resultate materieller Deformationen als Objektkunst und schließlich wird in Performances die Deformationsaktion selbst zum künstlerischen Medium. Montage-Schnitt und Dekonstruktionsakte werden zu Leitmotiven in Ortiz´ Entwicklung.


Ortiz-Conner-Arman


1958 beginnen Ortiz wie auch Bruce Conner vorgefundenes Filmmaterial zu montieren. Ersterer zerschneidet in "Cowboys and Indians" (Abb.1) mit ungezielten Tomahawk-Schlägen gekauftes Schmalspur-Filmmaterial mit Spielfilmausschnitten (Anthony Mann: Winchester `73, 1950) inklusive Tonspur in kurze Sequenzen und montiert sie per Zufallsverfahren, während Conner in "A Movie" zwischen längeren Filmsequenzen Bezugsfelder herstellt und vom Bild unabhängiges, nicht demontiertes Tonmaterial einsetzt. Ortiz überträgt die isolierende und Isoliertes verbindende Methode der Filmmontage 1961 auf Verfahren der Objektmontage: Reihen identischer Objekte mit unterschiedlichen Bearbeitungsspuren sind auf rechteckige Träger montiert ("Water Lilies I"). In seinen "Archeological Finds" (1961-65) exponiert Ortiz einzelne, bearbeitete Objekte wie Polstermöbel und Matratzen. Objekte mit Spuren von Destruktionsakten montiert der Künstler auf Holzgerüst: Die zersplitterten Objekte kann Ortiz nicht allansichtig präsentieren, da eine stützende Rückseite für Zusammenhalt und Stabilität sorgen muß. Anders als Arman, der zerstörte Objekte («Colères», ab 1961) auf Tafeln fixiert, präsentiert Ortiz das Destruierte nicht mit in Vorderansicht sichtbaren rahmenden, sondern mit versteckt tragenden Elementen.
Ortiz schildert, wie er 1961 eine Matratze am Strand von Coney Island zerstört:

...I threw acid on a mattress, set it on fire, peeled its skin off after putting out the fire with ocean water, pulled its springs through its burned stuffing, weighting the mattress down with rocks, I sunk it under the water, over a week later I pulled the mattress from the ocean, leaving it to dry in the hot sun, like a beached whale. (Ortiz 1996)

Das Resultat - die zerstörte Matratze auf Holzgerüst - trägt den Titel "Archeological Find #3" (Abb.2) und befindet sich seit 1963 im New Yorker Museum of Modern Art.
Mit dem Titel "Archeological Find" weist der Künstler das eigenhändig Hergestellte als Fundstück aus, und hält so der Gesellschaft einen Spiegel in Form einer Musealisierung deformierter zeitgenössischer Artefakte vor: Die Gegenwart erstarrt zum Fundstück. Die Spuren von Zerstörungen sind doppeldeutig: Sie können von Beobachtern, die über den Herstellungsprozeß nicht informiert sind, sowohl als Vorgefundene, als Bestandteil des Fundstücks, wie als Veränderungen durch Vandalenakte und als Versuche, es via Negation `wiederzubeleben´, gelesen werden. Die deformierten Objekte weisen optische und taktile Reize auf, die in Displays und Werbefotografie vermieden werden: Spuren des Lebendigen und Vergangenen gegen die Verherrlichung des Unberührten, den Schein des zeitlos Gegenwärtigen, in der Konsumwelt.

Ortiz verzichtet auf künstlerischen Ausdruck und schafft durch Destruktionsprozesse Werke, die es dem Beobachter überlassen, sich auf optische Entdeckungsfahrt in einer Splitterlandschaft zu begeben. Wenn es Expressives gibt, dann nicht deshalb, weil der Künstler Emotionen Gestalt verleiht, sondern weil der Beobachter sich dazu anregen lassen kann, Teile der Splitterlandschaften `als expressiv´ zu lesen. Die Spuren künstlerischer Zerstörung können als Memento Mori realer Zerstörung gesehen werden, als Anlaß zur geistigen Versenkung in die Kehrseite des Werdens. Ortiz´ Destruktionen betonen eine Seite des simultanen Prozesses von Werden und Vergehen - das Vergehen - und provozieren die Erinnerung an sein Komplement, das Werden: "The art that utilises the destructive process will purge, for as it gives to death, so it will give to life." (Ortiz 1966)

Aus Ortiz´ Destruktionen werden - wie auch aus Armans Objektdestruktionen, zum Beispiel einem gesprengten Sportwagen in "Dynamited MG" (1963) - Ausstellungsobjekte. 1965 realisiert Ortiz eine "Chair Destruction" (Abb.3) am Truro Beach (Cape Cod/Massachusetts). Fotodokumente dieses "Sacrifice at Truro Beach" überliefern - wie die Fotos, die Charles Wilp von Armans MG-Sprengung `schießt´ - den Aktionsverlauf. Ortiz ist auf den Fotodokumenten als Ausführender des Destruktionsprozesses zu sehen. Foto- und Video-Dokumentationen privater Solo- bzw. Self Performances werden im Laufe der sechziger Jahre zum Merkmal der "Body Art". Bei Ortiz spielt die kathartische Umlenkung von Aggressionen auf Objekte und Tieropfer (s. u.) eine entscheidende Rolle, in einigen Werken der "Body Art" dagegen wenden Künstler wie Günter Brus und Chris Burden Aggressionen gegen den eigenen Körper (Auto-Aggression).

Destruktions-Performances

1966 realisiert Ortiz in London aus Anlaß des "Destruction in Art Symposium" (DIAS) zum ersten Mal Klavier-, Stuhl- und Matratzendestruktionen (Abb. 4) vor einer Kunstöffentlichkeit. Der Performer zerstört im Londoner St. Bride Institute einen Stuhl auf sehr theatralische Art: Ortiz behandelt den Stuhl wie ein auf ihm sitzendes Lebewesen, mit dem er spricht und kämpft. Der Künstler beschreibt die Aktion:

I approached one of the men reading a newspaper and announced, "sir, would you please give up the chair, it belongs to me", "is this true, he asked the clerk", "yes answered the clerk, Mr. Ortiz had purchased the chair the day before". He was very polite, folded his paper and found himself another chair. I started shouting at the chair, shoving it around, Photographers moved forward, bulbs flashing, everyone sitting around me, leaped from the chairs, rushing to a safe distance away. I began physically attacking the chair, wrestling with it leaping on top of it, kicking tearing it apart my bare hands. With its wooden structure shattered, its leather covering, innards of wire springs, cotton stuffing and canvas straps all torn, I announced it´s finished. I posed over the destroyed chair for more photos and patiently answered reporters´ questions. (Ortiz 1996)

Ortiz´ Londoner Stuhl- und Matratzendestruktionen antizipieren Möbeldestruktionen von Otto Mühl (Zockhymne, Wien, 21.4.1967) und Paul McCarthy (1969).

Ohne den Umweg der Opferung in "Chair Destruction" über einen Kultgegenstand will Ortiz für das "Destruction in Art Symposium" ein Huhn schlachten und einen Vogel aussetzen, der im Freien nicht überlebensfähig wäre. Die Ankündigung provoziert öffentliche Entrüstung und Proteste. Den Übergang vom Ersatz-Ritualopfer zum Tieropfer kann Ortiz wenig später in der New Yorker "Chicken Destruction" (mit Julie Abeles, 1966) ausführen. Ortiz´ "Chicken Destructions" weisen Ähnlichkeiten mit Tierschlachtungen im karibischen, auch in Amerika praktizierten Santeria-Ritual auf. Auch wenn Ortiz seine für DIAS geplante "Chicken Destruction" einem religiösen Kontext zuordnet, indem er sie als "Santaria" bezeichnet, so läßt er doch die Möglichkeiten der Semantisierung des Schlachtprozesses und des Geschlachteten offen.

Ay-O hat bereits 1962 in einer Aktion eine Tierschlachtung realisiert. In der New Yorker Gordon Gallery legte er den Hals eines lebenden Huhns in eine selbst gebaute Guillotine. Allan Kaprow (Chicken, Philadelphia 7.11.1962), Joseph Beuys (Sibirische Symphonie, 1. Satz, Düsseldorf, 2.2.1963) und Wolf Vostell (You, Great Neck/Long Island, New York, 19.4.1964) haben Kadaver in Aktionen eingesetzt. Auch die Wiener Aktionisten Otto Mühl und Hermann Nitsch arbeiten seit 1963 mit Tierkadavern. Mühl hat sich 1969-70 - anders als bis dato Nitsch - nicht damit begnügt, Kadaver einzusetzen, sondern hat die Tierschlachtung in "O Tannenbaum" (Braunschweig, 16.12.1969) vom Schlachthof in den Aktionsraum versetzt sowie in "Aktion mit Hammel" zu versetzen versucht und ist daran gehindert worden (Bremen, 13.12.1970). Ortiz´ Tierschlachtungen nehmen in der Aktionsgeschichte der Tieropferung eine wichtige Stellung zwischen Ay-Os und Mühls Aktionen ein, da bei ihm der Zusammenhang zwischen Schlachtung und Ritual, zwischen Profanem und Heiligem, zum ersten Mal thematisiert wird.


Ausgrenzung und Übergang

Ortiz´ Tieropfer weisen, wie die Kadaver in Nitschs Aktionen, auf die Ausgrenzung des Tiertodes aus dem Alltagsleben, während gleichzeitig getötete Tiere Bestandteil des Warenangebotes sind. So schreibt Nitsch in "Drama als existenzfest":

Die tatsache, daß wir für unsere ernährung töten, wird abgeschoben und verdrängt. Die gesellschaft nimmt jedem einzelnen von uns die verantwortung für das töten ab. Sie bezahlt die schlächter, die abseits für uns töten.

Georges Bataille erklärt in «Abattoir» die gesellschaftlichen Gründe und Folgen der Ausgrenzung der Tierschlachtung aus dem Alltag:

Cependant de nos jours l´abattoir est maudit et mis en quarantaine comme un bateau portant le choléra. Or les victimes de cette malédiction ne sont pas les bouchers ou les animaux, mais les braves gens eux-mêmes qui en sont arrivés à ne pouvoir supporter que leur propre laideur, laideur répondant en effet à un besoin maladif de propreté...

Bataille sieht in der religiös geprägten Geschichte der Schlachtung Wurzeln für das in seiner Theorie auch säkular denkbare Religiöse: «L´abattoir relève de la religion en ce sens que des temples des époques reculées...étaient à double usage, servant en même temps aux implorations et aux tueries.» Bataille öffnet Perspektiven, um das aus dem Profanen herausgehobene Heilige und Schlachtung anders (und neu) als in der Geschichte des religiösen Tieropfers zu verbinden.

Bataille untersucht Tod und Aggression in außereuropäischen Gesellschaftsformen und kritisiert ihre Rolle in zeitgenössischen europäischen Lebensformen. Ortiz setzt Aspekte von Batailles theoretisch formulierter Kritik in Aktionsmodelle um, wenn er Beobachter seiner Performances dazu provoziert, sich Assoziationen - Bildvorstellungen und Gegenbildern - zu überlassen, die den sozialen Stellenwert von Tod und Aggression korrigieren.

Die Ausklammerung von Tiertötungen aus dem Alltagsleben, während sie gleichzeitig doch ein wichtiger Bestandteil der Nahrungsversorgung bleiben, läßt sich von öffentlichen Schlachtungen befürwortenden wie ablehnenden Beobachterstandpunkten infrage stellen: Befürwortende Zuschauer wollen eine Einbindung des Schlachtprozesses in das öffentliche Leben (s. Nitsch) und konsequent ablehnende Zuschauer fordern einen Verzicht auf Tierschlachtungen jeder Art. Die Infragestellung der praktizierten, aber von der Öffentlichkeit abgetrennten Tierschlachtung versetzt Beobachter in eine Übergangsformen vergleichbare Situation. In Übergangsformen werden soziale Widersprüche zwar schon erkannt, doch führen sie noch nicht zur Änderung von Lebensformen. Ortiz überschreitet diese Übergangsphase, wenn er sich überraschenderweise auf die Seite der seine Aktionen störenden Tierschützer stellt und seinen Aktionsplan aufgibt (DIAS, s.o.) oder ändert. In "Destruction Ritual: Sung Me My Lie" (Philadelphia, 17.1.1970) entwendet Ortiz das Huhn schneller als die Tierschützer den Verteidigern der Aktion und wird von Tier- wie Aktionsfreunden verfolgt. In einer für Beobachter verwirrenden Weise hat Ortiz das Tierschützer-Ziel der Rettung des Opfers übernommen. Die Konsequenzen aus der Alternative, Tierschlachtung entweder in Lebensformen zu reintegrieren oder zu verbieten, läßt Ortiz - anders als Nitsch - offen.

Im Unterschied zu Joseph Beuys offeriert Ortiz kein alternatives soziales Konzept für zukünftigen Lebens- und Kunstvollzug, sondern versucht, Restriktionen aus ihrer Codierung als unveränderbare kulturelle Gegebenheit zu lösen, um eine Dynamik von Gruppenprozessen freizusetzen: "Liminoid theatre" als "...a variant model for thought or action to be accepted or rejected." (Victor Turner 1977)


Physio-Psycho-Alchemy

Ortiz realisiert (als Vertreter des Black and Puerto Rican Committee der Art Workers Coalition) mit The Guerilla Art Action Group (GAAG) am 2.5.1970 (Abb.5) vor dem Museum of Modern Art in New York politisches Straßentheater als Demonstration gegen den Ausschluß von "black and Puerto Rican art" aus der Sammlung und dem Ausstellungsprogramm des Museums sowie für die Gründung eines "Study Center Center for Black and Puerto Rican Art". Ortiz praktiziert 1970 gleichzeitig direkte Aktion (nicht-matriziert) in eigenen Performances und mit Aktionsgruppen politisches Straßentheater, das soziale Konflikte durch ein typisierendes Rollenspiel (matriziert) zu Handlungsmustern verdichtet und die jeweilige Rolle durch Bezeichnungen auf Schildern anzeigt. Dann unterbricht Ortiz die Realisation von Performances sowie Straßentheater und unternimmt "a trip through the New Age supermarket" (Cynthia Carr): In den siebziger Jahren sammelt Ortiz Erfahrungen in verschiedenen Kursen und entwickelt ein neues Konzept für seine Form der Destruktionskunst.
In den sechziger Jahren begründete Ortiz sein Aktionskonzept psychologisch und inszenierte in einigen Aktionen Regressionen auf infantile Mama-Papa-Szenarien (Self-Destruction, DIAS, London, 2.9.1966; The Life and Death of Henny Penny, New York 1967). In der 1982 geschriebenen Dissertation "Towards An Authenticating Art" begründet Ortiz seine Theorie der "Physio-Psycho-Alchemy", die er 1992 in "The Cathartic-Shamanistic Roots of my Art" so vorstellt:

The premise central to physio-psycho-alchemy being that we, as mind, body and spirit are the material, the great work of art in progress, that our imaginations are art process and that what we imagine, in the ritual of our day to day lives, in the ritual of our day dreams and sleep dreams, are our primal and primary works of art, are our primal and primary shamanism. Our existence is an alchemy, rooted in our every inhale and exhale of breath. It is breath that is the symbol of life´s shamanistic catharsis; with its processes of sacrifice and transformation we create and transform microcosmic universes...all our billions of cells are sacrificed and recreated in a microscopic destruction/construction cycle...

In seinem "Statement of Video Esthetic" (1996) erläutert Ortiz die künstlerischen Konsequenzen aus der "alchemy of process and meaning in transformation..., that speaks it´s sacrifice of ego, of linear time and space:...that reveals the multiplicity of the narrative": "But beyond seeking individuation in enchantment, I wish the work itself to be an initiation."

Im Unterschied zu "liminalen" Riten, die Übergänge innerhalb einer für alle Individuen verbindlichen Sozialstruktur einleiten, sind für Ortiz in "Towards an Authenticating Art" Biorhythmen und (Tag-)Traumphasen, in denen die Subordination des Unterbewußtseins unter die Kontrolle des Bewußtseins aufgehoben ist, Bezugspunkte für einen Strukturen auflösenden und neubildenden Wandlungsprozess. Zugleich betont er die Ansätze des "Liminoiden" im "Liminalen" (Victor Turner 1995): Vom Initiationsritus zum Initiieren individueller Vorstellungen, vom religiös vorcodierten Schlachtopfer zur Schlachtung als tabubrechende Kunstaktion. Der Künstler-Schamane provoziert Beobachter durch zeitgenössische Formen der Initiation, etwas an dem zu ändern, was dem vorgeführten Aktionsverlauf der Zerstörung in der Gegenwart zugleich ent- und widerspricht. Ortiz initiiert unabgeschlossene, "liminoide" Riten, die zur Reflexion über soziale Zusammenhänge zwischen manifester Gewalt und latenten wie verdrängten Aggressions- und Destruktionspotentialen provozieren.


Computer und Video

In Pianodestruktions-Performances (nach Ortiz´Angaben auf einem unbebauten Grundstück in Brooklyn bereits ab 1962, vor Kunstpublikum ab 1966 ausgeführt) setzt Ortiz den Klangkörper zur Produktion einer Geräuschmusik via Axthieb ein, deren rhythmische `Klangstöße´ in der Tonorganisation seiner computergestützt bearbeiteten Video-Filme (ab 1985) wiederkehren. In "The Kiss" (1985) wird die rhythmische Wiederholung einer Spielfilm-Kuss-Szene (Robert Rossen: Body and Soul, 1947) von Tönen skandiert, die den Liebesakt in rhythmisch knallende Schläge von Mund auf Mund verwandeln. In "Conversation" (1996) durchdringen sich Sequenzen aus einem Schwarz/Weiß- und einem Farb-Film. Schwarz-weiß sind zwei Männer zu sehen, zwischen denen und auf beziehungsweise in deren Kontur in Farbe eine Frau erscheint. Die rhythmischen Wiederholungen und Transformationen des Lautmaterials der Filmvorlagen ergeben eine eigene Form der "Konversation": Die aneinandergereihten, lautähnlichen, aber bedeutungsverschiedenen Sätze der Männer werden von den rhythmischen, beschleunigten Schreien der Frau begleitet und gestört.

Digitale Verfahren der Bildverarbeitung verwendet Ortiz, um Prozesse der De- und Resemantisierung zu initiieren. Die Filmabläufe von "Kiss" und "Conversation" verweisen nicht nur auf sich selbst als mit elektronischen Mitteln konstruierte Zeichensysteme, sondern auch auf soziale Prozesse. Typisch für Ortiz´ Verfahren ist, daß er auf soziale Bewertungen verzichtet: Statt ein Verhältnis zur Gesellschaft auszudrücken, schafft er Anlässe für Reflexionen über Prozesse, die Sozialisation konstituieren. Die meist wertindifferente Behandlung des Filmmaterials des Video-Buddhisten Nam June Paik wandelt der Video-Schamane Ortiz in Modelle des "Liminoiden".

In der Aktion wie im Film thematisiert Ortiz Performance-Aspekte. Performance-Aspekte unterscheidet von Performances, daß auch mit nicht theater-, musik- und aktionsspezifischen Mitteln Spannungen zwischen den "Registern" des "Symbolischen" und des "Imaginären" (Jacques Lacan) thematisiert werden können. Dank dieses Performance-Aspektes kann auf Annahmen wie `letzte´, nicht mehr hinterfragbare Bezugspunkte - ein unmittelbar gegebenes, affirmativ benennbares Reales oder als unveränderbar ausgewiesene "instituierte Bedeutungen" (Cornelius Castoriadis) - verzichtet werden. Ortiz setzt "liminoide" Aktionsformen, die Übergänge zwischen Sozialformen initiieren, ein, um auf die Selbstverwandlungsfähigkeit der Gesellschaft zu verweisen, und provoziert zur Reflexion über die "Gesellschaft als selbstinstituierende" (Castoriadis).

 

(publiziert in: neue bildende kunst. Nr.1/Februar-März 1998, S.56-63 mit zahlreichen Abbildungen)

                                          

 Literatur