Thomas Dreher
Sol LeWitts dreidimensionale Arbeiten seit 1962 sind für die Wanderausstellung "Structures" vom Oxforder Museum of Modern Art [24.1.-28.3.1993] mit finanzieller Unterstützung von Nina Ricci (Paris) zusammengestellt worden. Die Reduktion auf Werke in den (Nicht-)Farben Schwarz und Weiß ergibt sich durch den Verzicht auf LeWitts frühe Experimente mit farbig bemalten Körpern (1962-64) und den Ausschluß der ab 1969 auch farbigen Wall-Drawings, Zeichnungen und Druckgraphiken. In den Räumen der Villa Stuck [München, 29.4.-18.7.1993] ergeben sich überraschende Korrespondenzen zwischen Jugendstilarchitektur und minimalistisch-konzeptuellen "Structures": Die geometrischen Muster der Innenarchitektur (Fußboden, Heizungsverkleidung, Fenster, Fries) und die stereometrischen Grundformen der Werke von LeWitt kommentieren sich wechselseitig. Links: All Variations of Incomplete Open Cubes, 1974. Installation mit 122 bemalten Holzstrukturen auf bemaltem Holzsockel und 122 Rahmen mit Fotos und Zeichnungen auf Papier.
Körperöffnung und -schließung In "Wall Structures" von 1962 bis 63 setzt LeWitt Farbwechsel zur rhythmischen Gliederung ein. Die ausgestellten Arbeiten beschränken sich auf Schwarzweißsequenzen. Sequenzen aus bemalten Körpern ersetzt LeWitt 1965 durch Reihen aus monochromen Rohren quadratischen Querschnitts, die in konstanten Abständen und rechtem Winkel aufeinandertreffen. Ausgegrenzte Leerräume spielen eine mindestens ebenso große Rolle wie die ausgrenzende Materie. Bei LeWitts "Structures" mit "Open Cubes" entsteht kein Werkraum, der im Sinne bildhauerischer Tradition vom Umraum geschieden wäre, sondern eine Sequenzierung des Umraums: Umraum und Werkraum gehen ohne "ästhetische Grenze" ineinander über. Wenige Monate nach den ersten "Structures" mit schwarzen "Open Cubes" von 1965, ausgestellt ist "Floor Structure, Black", entschließt sich LeWitt zu geweißelten Vierkantrohren aus Holz, Stahl oder Aluminium. Ab 1966 werden die Vierkantrohre ausschließlich weiß bemalt, ab 1969 werden Aluminiumrohre auch weiß emailliert. Linkes Bild: Links: Standing Open Structure, Black, 1964. Bemaltes Holz. Mitte: Floor Structure, Black, 1965. Bemaltes Holz. Rechts: Wall Structure, 1963. Öl auf Leinwand und bemaltes Holz. Linkes Bild: Vorne: Four-Sided Pyramid und Five-Sided Pyramid, beide 1991. Bemaltes Aluminium. Hinten: Zwei Structures mit Open Cubes, 1990 (Rechts: Horizontal Serial Piece (Open Geometric Structure) #V, 1990. Bemaltes Holz). Links: Maquette for Vertical #9, 1990. Bemaltes Holz. Links: Four-Sided Pyramid und Five-Sided Pyramid, beide 1991. Bemaltes Aluminium. Bei den offenen Pyramiden ergeben sich irritierende Verhältnisse zwischen Rohrvolumen und ausgegrenztem Leerraum sowie zwischen Außen- und Innenkontur der Ausgrenzungen. Solche Spannungen vermeidet LeWitt in den "Open Cubes". Die Kombination von offenen Pyramiden im letzten Raum mit orthogonalen offenen und geschlossenen Strukturen ist eine Variation der Ouvertüre in den ersten Ausstellungsräumen: Auf die serielle Kombination offener Kuben und die komplexe geschlossene Form im ersten Raum der Ausstellung folgen in einem kleinen Durchgangsraum die "Five [Open] Geometric Structures" [von 1978] mit 'verzerrten' und unverzerrten Vierkantrohren. Die "[Open] Geometric Structures" sind auf einem längsrechteckigen Sockel gereiht. Die "Structures" werfen auf den Sockel je nach Lichteinfall verschiedene Schatten. Die Schattenspiele der offenen irregulären Pyramiden von 1991 [zeichnen] Verzerrungen und Überschneidungen [der] Stangen auf den Boden. [Das Spiel der Überschneidungen zwischen Stangen und ihren Schatten, zwischen Schatten in den von Stangen ausgegrenzten Bereichen und außerhalb, wird von 1978 zu 1991 erweitert.] Die geschlossenen pyramidalen und kubischen Strukturen der Skulpturen der achtziger und neunziger Jahre beziehen den Umraum durch ein Spiel mit kontextbedingtem Lichteinfall ein und variieren so die Transparenz des Verhältnisses Werk-/ Umraum der Strukturen aus offenen Kuben. Zugleich erhält auch bei offenen Formen das Licht eine neue Bedeutung - durch das [erweiterte] Spiel der Schatten.
(Nicht-)Plastizität In den "Complex Forms" aus vielfach gebrochenen Pyramiden und Pyramidenstümpfen ergeben sich Differenzen zwischen optischer Wahrnehmung und faktischer Plastizität. Durch Faltkanten erscheinen weiße Flächen je nach Lichtbrechung in verschiedenen Helligkeitsgraden. Flächenformen und Helligkeitsgrade dienen dem Betrachter als Anhaltspunkt zur Erfassung der Tiefenerstreckung. Die Gewißheit über den Körperumfang durch Abzählung von Blocklängen, wie sie das Fugenlineament der Ascheblockskulpturen bietet, kann die rein optische Erfassung der Tiefe von "Complex Forms" nicht bieten. Formen können de facto einen anderen Umriß besitzen, als den, den sie durch Lichteinfall und perspektivische Verzerrung zu haben scheinen. In "Complex Form #8" ist die Erfassung einer faktischen Tiefenerstreckung dank vielfältiger, sich in der Länge entfaltender Körperbrechungen ohne Hilfsmittel nicht mehr möglich. LeWitt legt dem Betrachter dieser Arbeit nahe, seine Aufmerksamkeit den Längsseiten zu widmen, statt den Körper im Umschreiten als dreidimensionales Kontinuum zu erfassen. So demonstriert LeWitt hier eine Präferenz der optischen Erscheinung vor Plastizität. Durch die Art der Brechungen zerfallen die Längsseiten in eine geschlossene, den Blick führende Rück- und eine zerklüftete Vorderseite. In dieser malerischen Skulptur setzt LeWitt Lichtbrechungen als Ersatz für die Tuschefarben in Wall Drawings aus vielseitigen irregulären Formen ein. Complex Form #8, 1988. Bemaltes Holz ("Vorder-" und "Rückseite"). Bei geweißelten Ascheblock-Skulpturen mit rechteckigen Umrissen wird die Aufmerksamkeit von der optischen Erfassung der Tiefenerstreckung durch Helligkeitsgrade weg und hin zu dem Kontrast zwischen Volumenumriß und Fugenlineament gelenkt. Durch Lichtbrechung entstehen gleißende oder verschattete Oberflächen. In beiden Fällen ist die graduierende Wahrnehmung von Abschattierungen aufgehoben, welche bei der Wahrnehmung der gefalteten geschlossenen Pyramidenformen zwar eine entscheidende Rolle spielt, aber auch dort nicht zur Erfassung von Tiefe taugt.In den Hintergrund tritt bei den Ascheblockskulpturen die Materialität der Oberfläche und das Gewicht des Körpers, nicht aber die optische Erscheinung. Die Oberfläche wiederum kommt bei den Skulpturen aus weißen Aschequadern im Läuferverband durch die Nuancen negierende Lichtbrechung nur in gebrochener Weise zur Geltung: als Umriß von quadratischen Flächen und als Fugenlineament, durch das das Körpervolumen über alle perspektivischen Verzerrungen des Umrisses und Lichtbrechungen hinweg abzählbar wird. Über die Reduktion der Körpereigenschaften auf Umriß und Abzählbarkeit des Umrissenen durch die Fugen wird die Oberfläche zeichenhaft: Sie bezeichnet ihre eigene Erscheinung als Körper. An Zweidimensionalität gebundene optische Erscheinung wird also in ein Dies- und Jenseits, in Plastizität und Zeichen, gebrochen. Diese Brechung in eine Zweiheit ermöglicht die Selbstbezüglichkeit. 1 2 3 4 5 4 3 2 1, 1993. Ascheblöcke. Yorkshire Sculpture Garden, West Bretton, Wakefield, England. Foto: sheilaellen 2006. Copyright: Creative Commons Bei "1 2 3 4 5 4 3 2 1" von 1992 [Maquette, weiß bemaltes Holz. Ausführung: Ascheblöcke. Yorkshire Sculpture Park, West Bretton, Wakefield/England, 1993] aus versetzten Körpern, deren Länge, Höhe und Breite pro- oder regressiv in der im Titel angegebenen Weise variiert, würde sich der Eindruck einer Transformation eines Basisvolumens ergeben, wenn auch die Größe der Ascheblöcke transformiert worden wäre. Volumentransformation und konstantes Fugenmaß sind gegenläufige Aspekte der Ascheblockskulpturen. [Die Aufnahme von der Ausführung oben zeigt, daß Patina der "Materialität der Oberfläche", und damit auch dem "Gewicht des Körpers", ein 'optisches Gewicht' verleiht, welches die Maquettes nicht erkennen lassen.] Links: Block (Maquette for Piece in the Sculpture Garden of the Isreal Museum, Jerusalem), 1991. Bemaltes Holz. "Das Zentrum ist vielleicht die Verschiebung der Frage... Wo ist das Zentrum? Unter der Asche." (Jabes, E.-Le retour au livre, Paris 1965; auf deutsch in: Derrida, J.-Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1976, S. 446f.) LeWitts Arbeiten sind zwar offen für beobachter- und umweltspezifische Fremdbezüglichkeit, doch werden Eigenschaften der Präsentationsumstände nicht an die werkinterne Selbstbezüglichkeit rückgekoppelt. Wer nach einem positiv faßbaren Zentrum, einem alles bestimmenden, Fremd- und Selbstbezüglichkeit vermittelnden Sinn sucht, prallt an ästhetischer Indifferenz ab. Brechungen [durch Präsentationsumstände] dienen als Beweis für die werkinterne Hermetik. Die im Labyrinth der Fremdverweise auffindbare Semantik der Werke ist ihr Anschluß an eine Tradition der De- und Selbstsemantisierung in der künstlerischen Moderne. In "Block" werden vorcodierte Koordinationen von Zeichen mit Bedeutung verzerrt: Die Kombination der semantisch vorbelasteten Elemente Asche, Mauerverband und Block ergibt keinen übergeordneten, der Kombination von Worten zu Sätzen vergleichbaren Sinn. Dies wirkt zurück auf die Semantik der einzelnen Elemente, die für Zeichen stehen, deren Bedeutung durch die Zeichenverwendung im Kontext anderer Zeichen - wie Worte in Sätzen - etabliert worden ist: Mit der hermetischen Kombination von vorcodierten Zeichen statt ihrer Relationierung im Hinblick auf einen übergeordneten Sinn wird auch der Codierung der einzelnen Zeichen, ihrer etablierten Koordination mit Bedeutung, die Basis entzogen. Abgeschnitten vom vorangegangenen Zeichengebrauch werden die präsentierten Zeichen bedeutungslos. LeWitt verbindet über die Semantik der Nicht-Semantik die jüdische Tradition des unfaßbaren Zentrums mit der Tradition einer künstlerischen Avantgarde, die im Gedenken an die Differenz zwischen Wahrnehmung und Begriff, zwischen Unendlichem und Totalität, schon immer postmodern war: "Begegnung des schlechthin Anderen... Absolutes Außen, Äußerlichkeit, die die Monade des ego cogito unendlich übersteigt... Unendlicher Begriff, der im Protest gegen den Begriff verborgen ist." (Derrida, J.-s.o., S. 145,162,170)
Ästhetische Indifferenz LeWitt entwickelt dreidimensionale Arbeiten aus syntaktischen Regeln, die mit konstanten Elementen in additiver Weise verfahren oder sie transformieren bzw. 'verzerren'. In der "Modular Structure" "Serial Project No.1 (A B C D )" von 1966 gewinnt LeWitt in Kombination mit Relationen verschiedener Längen und Höhen eine Grammatik, aus der er 36 Varianten generiert. Ausgestellt ist "Set C" in einer kleinen Version mit weiß emaillierten, beweglichen Stahlteilen. Durch Anheben der großen geschlossenen Formen läßt sich überprüfen, welche kleinen, hier offenen Formen dem Blick entzogen werden. In "Serial Project No.1" exponiert LeWitt die von ihm in den "Paragraphs on Conceptual Art" (Artforum, June 1967) explizierte Leitdifferenz zwischen "conception" und "perception" mit geschlossenen und offenen Basiselementen sowie seriellen Kombinationsverfahren. Geschlossene und offene Elemente in seriellen Kombinationen bestimmen seine künstlerische Arbeit bis heute. Serial Project No.1, Set C, 1967. Gebrannte Emaille. Europäische serielle Künstler wie Max Bill, Richard Paul Lohse oder François Morellet arbeiten mit dem von Informationstheoretikern wie Max Bense und Abraham A. Moles analysierten Problem, durch Experimente mit Verhältnissen zwischen Information und Redundanz ein Maß des Schönen zu finden. Europäische serielle Kunst versucht eine permanente Avantgarde zu situieren, die dem Redundantwerden des gefundenen ästhetischen Maßes durch Abweichungen laufend entrinnen will, um auf einer neuen Ebene die Balance zwischen Information und Redundanz zu finden. LeWitt demonstriert Desinteresse gegenüber dieser informationstheoretischen Fragestellung, indem er mit unter- und überkomplexen Strukturen arbeitet: vgl. "Block" mit "Complex Form #8". Der Selbsthistorisierung ästhetischer Normen, wie sie in der informationstheoretisch fundierten Ästhetik von Bense und Moles angelegt ist, setzt LeWitt eine mit normativen ästhetischen Maßstäben und narrativen seriellen Strukturen ironisch spielende postmoderne Haltung entgegen. Darauf verweisen auch folgende Äußerungen von LeWitt:"The series [Serial Project No.1] would be read by the viewer in a linear or narrative manner even though in its final form many of these sets would be operating simultaneously, making comprehension difficult." (Aspen Magazine, Nos.5/6, 1966) "Serial Project No.1" von 1966 und "Block" von 1991 sind Beispiele für verschiedene Wege LeWitts gegen eine Vermittlung von Wahrnehmung und Begriff, unendlicher Vielheit und abstrahierender Einheit. LeWitt verwendet traditionell für rationalistische und moderne Weltauffassungen stehende geo- und stereometrische Elemente des Rasters und des Kubus als Verweise auf rationalismuskritische Aspekte. Äußerlich spätmoderne Kunst erweist sich als postmodern. Literatur: (Mit einer s/w-Abbildung publiziert in: Kritik. Zeitgenössische Kunst München. Nr.3/1993, S.26-32. Netzfassung August 2008 mit Ergänzungen und Veränderungen in eckiger Klammer.) |